Willkommen zur Einkehr
Einkehr - die neue Rubrik auf Tartuffel
Jede „Einkehr“ ist ein Sammeln. Ein Besinnen auf den Weg, das Ziel, den Moment. Zugleich aber ist jede „Einkehr“ auch ein Dialog, selbst wenn sie schweigend vollzogen wird. Wir kehren ein. Betrachten das Restaurant, die Details, Tische, Stühle, die anderen Gäste. Ist es kalt? Laut? Lebhaft? Gibt es Tischdecken? Fühlt man sich wohl? Was bietet die Küche? Was der Service? Wie lasse ich mich auf diese Eindrücke ein? Wie schlagen sie sich nieder? Welche Erfahrungen mache ich? Welche werde ich in Erinnerung behalten?
„Einkehr“ ist aber stets auch der Kurzschluss von natürlichen Bedürfnissen und kulturellen Codes. Denn, auch wenn dies der Begriff der Einkehr nahelegt, schaufeln wir ja nicht einfach Kohlehydrate wie Treibstoff in uns rein. Vielmehr sind wir Teil der Gesellschaft „Im Restaurant“ und hungriger Esser, der ganz subjektive Geschmackserlebnisse haben kann, gerade auch wenn er seinen Hunger stillt. Im gelingenden Momenten der Einkehr hat man ein Gefühl des Ichs, des verinnerlichten Geschmackserlebnisses. „Ich“ ist so verstanden nicht nur ein Anderer, sondern ernährt sich von Anderen und ist immer auch ein Konstrukt aus Erlebten, Erlernten, Sortiertem – in gewisser Weise also subjektiv Traditionellem - und neuen Erfahrungen, die Ihrerseits zu Ablagerungen des Traditionellen werden. Essen und die Art, wie wir damit umgehen ist für sich schon eine Grenzerfahrung, denn es markiert die Grenze zwischen natürlichen Bedürfnissen und kulturellen Prägungen. Ohne Gemeinschaft würden wir nicht leben, denn die Gemeinschaft nährt uns. Daher sind Essen und Sprechen zwei Seiten der einen Ess-Medaille. Nicht umsonst hat die Zunge das doppelte Vermögen Worte zu Formen und Geschmack zu empfinden. Von der Muttermilch an ist Essen stets mehr als Nahrungsaufnahme, es ist kultureller Austausch. Denn schon die scheinbar so natürliche Nahrung an der mütterlichen Brust ist Kommunikation, Nähe, Wärme, Bewusstsein von anderen Menschen, nicht umsonst saugen wir die Sprache mit der Muttermilch auf. Und das „Ich“ verändert sich durch und mit der „Einkehr“.
Was aber suchen wir im Essen, wenn wir nicht nur in ein Restaurant einkehren, sondern auch darüber reden, vielleicht sogar schreiben wollen? Ist es handwerkliche Kunst? Ehrlichkeit? Ein schlüssiges Konzept? Sicherlich vieles davon und noch viel mehr, aber nicht alles zugleich. Begeben wir uns also auf die Suche.
In diesem Beitrag zu Beginn der Rubrik geht es um die Einkehr vor der Einkehr. Den subjektiven Moment. Es geht darum Zeit im Text einzufangen, Gedankenassoziationen Raum zu geben. Betrachtungen und Gedanken über Essen haben immer mit der Schwierigkeit zu kämpfen, persönliche Erfahrungen auf ein möglichst objektivierbares Level zu bringen, wollen sie nicht in der subjektiven Gegenwart, die kauend noch „Ich“ sagt hängenbleiben. Kann es Restaurantkritik online geben, ohne das „Ich“ in den Vordergrund zu stellen? Diese Reihe will den Versuch einer Annährung darstellen.
Es geht nicht nur um die Beschreibung kulinarischer Avantgarde, die Grundlagenforschung und Trendtestung betreibt und dabei Essen in Kunst und Kunst in Essen verwandelt, teilweise mit sehr durchdachten Konzepten, teilweise mit einem starken Überhang in den Eventbereich. Es geht ebenso um die Fragen von Küche und Grenzen der Kultur, Küche und Grenzerfahrungen, Küche und Kinder. Kochen basiert immer wieder auf Erfahrungen, auf Bekanntem. Doch Küche soll auch Neugierde wecken, verständlich sein und herausfordern. Sie ist Beides: Avantgarde und Bedürfnisbefriedigung. Kunst und gewachsene Kultur. Wie wächst man in die Kochkultur hinein, wie erfährt man Kochkunst? Jeder Restaurantbesuch lädt ein, neue Erfahrungen zu machen, oder Bekanntes zu bestellen. Jede Restaurantkritik bewegt sich in diesem Koordinatenfeld. Kommen wir also vom Kopf über die Kinder zum Bauch. Fahren wir fort um einzukehren.
Er-Fahrung
Der moderne Alltag ist getaktet. Die Zeit wird zum Maßstab, nicht nur in der Produktion im Akkord: Ein bevorstehender Termin ist lediglich der Platzhalter für den Folgenden. Auszeiten folgen diesem Phänomen der innerlichen Taktung, auch Urlaube werden durch ihre Begrenzung definiert, weshalb es gilt, die Zeit, welche sie bereit halten, zu nutzen. Musse aber braucht einen frei schwebenden Zustand, keinen Gegenstand und keinen Nutzen der sie vertreibt. Und so ist es kein Wunder, dass der Urlauber der modernen Gesellschaft den Reisenden früherer Zeiten ablöste. Der Reisende genoss die Fahrt, liess sich treiben, von Gedanken, Veränderungen, Klima, Landschaft, Erinnerungen und genau in diesem Sinne ist die Reise eine Einkehr, wie sie eine Grenzerfahrung ist. Sie bedarf der Sammlung, der Musse, und eben auch der Einkehr zu sich, verstanden als bewusste Zuwendung. Die Zeit, gerade in dem Moment, in dem sie das Diktat ihrer allgegenwärtigen Bedeutung verliert, wird außer Kraft gesetzt. Das Ich erfährt sich intensiv als es in Umgebung, Zeit und Raum scheinbar zerfließt, eine Grenzerfahrung, die Ich sagen lässt.
So verstanden kann man erst ganz bei anderen - dem Gegenüber, dem Essen, dem Genuss - sein, wenn man ganz bei sich ist. Genau dies soll die Einkehr bewirken.