Wildkräuter und Rheinkapern
Traditionell: Avantgarde im Vieux-Sinzig
Dieser Text eröffnet die neue Tartuffel-Rubrik „Einkehr“ praktisch. Daher ist es an der Zeit einmal persönlich zu werden und subjektiv von eigenen Erfahrungen zu berichten. Ich wäre heute ein Anderer, wenn es dieses Restaurant nicht geben würde, besonders aber, wenn ich nicht die Freundschaft von Jean-Marie Dumaine erfahren hätte. Insofern hat das Vieux-Sinzig viel mit dem zu tun, was ich unter Einkehr verstehe und weshalb mir diese Rubrik so sehr am Herzen liegt. Aber dazu später.
Im Laufe des Lebens, besonders aber im Laufe des Heranwachsens gibt es zahllose Dinge, die einem einfach so widerfahren. Sie geschehen einfach. Gerade in Sachen Essen ist das offensichtlich. Zunächst bekommt man einfach Dinge in den Mund geschoben, später bedient man sich an den Dingen, die eben da sind. Besonders als junger Mensch wählt man weniger aus, als dass man zahllose Erfahrungen einfach erst einmal sammelt. So, wie mein erster Besuch im Alt-Sinzig. Ich hatte den Besuch weder geplant, noch hatte ich eine Ahnung davon, was mich hier erwarten würde. Es gab für mich folglich keinerlei Vorbereitung. Das Einzige, was ich wusste, war, dass wir in ein Restaurant fahren würden, welches von einem Franzosen geleitet wurde. Rückblickend kann ich sagen, dass ich damals unverschämtes Glück hatte, dieses Restaurant kurz nach seiner Eröffnung besucht zu haben.
Zeitreise
Damals, das war in diesem Fall das Jahr 1980. Zu dieser Zeit hatte ich schon meine ersten Experimente am Herd absolviert. Als sogenanntes Schlüsselkind – die Eltern waren Tagsüber nicht zu Hause und man gehörte zu der Minderheit, die einen Haustürschlüssel bei sich tragen durfte - hatte ich in der Schulzeit damit begonnen, mir Mittags selbst etwas zu kochen, ein herrliches Erlebnis, denn endlich konnte ich das zubereiten, was ich immer schon einmal probieren wollte und leckere Dinge selbstständig mit den anderen leckeren Dingen kombinieren. Nudeln mit gebratenen Apfelspalten, Zimt und Zucker und ähnliche Dinge. Ende der Siebziger konnte ich mit einem befreundeten Jäger auf die Jagd gehen und machte nicht nur erste Erfahrungen auf dem Hochsitz, sondern geriet in die Lage Fasane sowohl schön zu finden, wenn ich sie auf dem Feld oder in der Luft sah, als auch lecker, wenn sie fertig zubereitet auf dem Teller lagen.
Kulinarisch gesehen war dies eine andere Zeit. Daher sollte man an dieser Stelle einmal innehalten und die damalige Situation vor seinem geistigen Auge aufziehen lassen: Die gutbürgerlichen Restaurants warteten mit panierten Schweineschnitzeln, Kroketten, Rotkohl aus der Dose und Salat aus dem Glas auf. Der Wein, der den Gästen nicht mehr angeboten werden konnte, verschwand gerne in Ragouts und die Weine auf der Karte trugen angeblich verkaufsfördernde Namen wie Nonnenfurz oder Nacktarsch und sollten den Appetit auf ihre damals begehrte zuckrige Süße anregen. Denn man trank mit Vorliebe süßliche Weine, bis einige Jahre später der Skandal um Diethylenglycol, der bei der Aufzuckerung des Weines half, dort aber eigentlich gar nichts zu suchen hatte, ein völlig neues Käuferverhalten erzeugte in dessen Folge eine neue Generation von Winzern aufbrach neue Wege zu gehen. Der neue Umgang mit Wein änderte auch das Verhalten der Gäste im Restaurant, aber noch war es nicht so weit. In den durchweg mit dunklem Eichenholz vertäfelten Gasträumen gab man sich gerne modern und praktisch: Das Eis wurde in der Regel mit Früchten aus der Dose dekoriert, dafür wurden die Aschenbecher nach Gebrauch nicht eigens abgeräumt, sondern lediglich vor den Augen des Gastes ausgebürstet. In anderen Restaurants, die etwas auf ihre Kochkunst hielten, wurde Hase und Wildschwein angeboten. Schnecken kamen in Kräuterbutter auf den Tisch. Doch meistens wurden Steaks nachgefragt, die über offenem Kohlefeuer gegrillt wurden und ganzjährig mit durch dünn geschnittene Speckstreifen zusammengehalte grüne Bohnen serviert wurden. Die gutbürgerliche Küche war nicht sinnlich, die gute bürgerliche Küche musste man suchen.
Vieux-Sinzig
Im Dezember 1979 übernehmen Colette und Jean-Marie Dumaine das „Alt-Sinzig“ in Sinzig. Zunächst orientierten sie sich an der Karte, auf der sich auch noch Wirtschaftswunderklassiker wie das Toast Hawaii fanden. Doch schon im Jahr drauf bekommt das Restaurant einen französischen Namen aus „Alt“ wurde „Vieux“ und auch die Karte wird behutsam aber stetig umgeschrieben. Der Kochschinken auf dem Toast verschwindet zugunsten eines Schweinerückensteaks und die Dosenananas muss einigen frisch geschnittenen Apfelstücken weichen und durch den Verzicht von Scheiblettenkäse – ein käseähnlicher Zustand von Plastikscheiben zusammengehalten - zugunsten von französischem Rohmilchkäse wird aus dem Toast Hawaii ein „Toast Normandie“. Schnell tauschen „Hechtklöße mit Krabbensauce“, „Poulardenrouladen Normandie“ und „Créme Caramel“ auf der Karte auf. Die Liebe zum Detail, vor allem aber die zum Kochhandwerk schlägt sich zunehmend auf der Karte nieder.
Von all dem habe ich zu dieser Zeit keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir in ein französisches Restaurant fahren und bleibe, bis auf meine spärlichen vom Hörensagen geprägten Vorurteile relativ unbefangen. Das kleine, ebenfalls dunkel gehaltene Restaurant wartet mit einer Überraschung auf: es gibt keinen dunkel gekleideten Kellner mit mürrischem Gesichtsausdruck, sondern eine in normannischer Tracht gehüllte freundliche Gastgeberin, die nicht nur die Karte reicht, sondern sogleich auf Spezialitäten des Tages hinweist und den Gast nach seinen Wünschen fragt.
Der Großmuttersalat mit pochiertem Ei, hausgemachten Croutons und einem frischen süßsäuerlichem Dressing ist für mich eine kulinarische Offenbarung. Einfache Zutaten werden hier durch ihr Zusammenspiel zu einem kulinarischen Genuss. Keine Joghurtsauce, keine Essigessenz, kein Zucker verdirbt den Geschmack. Im Gegenteil, ein mir bis dahin unbekannter Dattelessig sorgt für ein elegantes Spiel zwischen Säure und Süße, es scheint, als wären alle Salatblätter einzeln balsamiert, dazu die leicht nach Knoblauch schmeckenden Croutons und das wachsweiche Ei, ein unvergessliches Erlebnis. Ein Salat. Eine Sensation. Der Salat ist mittlerweile ein Klassiker im „Vieux“, hat im Laufe der Jahre mehrere Veränderungen erlebt und wird mittlerweile aus 36 verschiedenen Kräutern zubereitet. Früher bereitete Jean-Marie den Salat so zu, wie er es von seiner Großmutter gelernt hatte, mittlerweile trägt er den Namen sicherlich, da man sich einfach Zeit lassen sollte, um ihn in seiner geschmacklichen Vielfalt in aller Ruhe zu genießen, denn die Vielzahl und genau Abstimmung der unterschiedlichen Kräuter führt dazu, dass jeder Bissen ein wenig anders akzentuiert ist. Damals aber merkte ich, dass man gerade die mir bekannten Gerichte deutlich anders zubereiten kann, als es mir geläufig war. Dann wurden Jakobsmuscheln an den Tisch gebracht. Bei der Bestellung war ich skeptisch. Muscheln, ob man so etwas essen kann? Jakobsmuscheln selbst hatte ich bis dahin so wenig gegessen wie andere Schalentiere. Jetzt kamen sie auf den Tisch. Wunderbar anzusehen in ihren Schalen, schon die Präsentation hatte etwas verspieltes und zugleich etwas sinnliches. Der Duft, so betörend, dass er sich in meinem Kopf bis heute festgesetzt hat. Schon vor dem ersten Bissen war klar, dass ich Jakobsmuscheln lieben würde. Der Geschmack revolutionierte mein Geschmacksbild, die Verbindung von cremiger Zartheit und karamelligen Röstaromen war mir bis dahin fremd. Unmittelbar war klar, dass ich hier eine neue kulinarische Freundschaft schloss.
Essen im Vieux-Sinzig war von Beginn an eine sinnliche Erfahrung. Umso schöner, dass mir die Küche offen stand. Voller Stolz zeigte Jean-Marie den Ort, der den Gästen eines Restaurants so oft verschlossen bleibt. So konnte ich selbst einen Eindruck gewinnen, garte bei einer hier verabredeten späteren Begegnung zum ersten Mal unterschiedliche Gemüse nacheinander in Brühe bissfest. Eine Übung, die mir neu war, gab man doch die Gemüse stets zusammen in den heimischen Eintopf. Hier aber lernte ich wie unterschiedlich man die verschiedenen Zutaten behandeln soll, wenn man Wert auf Geschmack legt. Zum ersten Mal bereitete ich in dieser Küche Ochsenschwanz zu, ein Rezept, das mir bis dahin durch andere Küchen – und ja, diverse Suppentüten - gründlich vergrault war, definierte nun meinen kulinarische Kompass neu. Wenn aus gleichen Zutaten so unterschiedliche Geschmackserlebnisse werden können, dann, so nahm ich mir vor, wollte ich lernen, sinnvoll und sinnlich zu kochen. Die ersten Erfahrungen dazu sammelte ich in der kleinen Küche des alten Restaurants. Später aß ich hier – wenn auch wirklich zunächst sehr zögerlich – zum ersten Mal Brennnesseln, die dann doch nicht brannten und auch Löwenzahn, den ich bis dato lediglich als Unkraut aus dem heimischen Garten entfernt hatte. Jean-Marie wirkte auf manche Sinziger wie ein Exot und bisweilen wurde er belächelt, wenn er am Vormittag in der Natur Kräuter sammelte, die andere bestenfalls als Kaninchenfutter pflücken, wenn nicht als Unkraut vernichten wollten. Doch sein Engagement führt dazu, das der Normanne am Rhein die kulinarische Vielfalt der heimischen Flora entdecken und seinen Bewohnern auf dem Teller schmackhaft machen kann. Durch ihn habe ich nicht nur das erste Mal in meinem Leben Mispeln probiert, sondern auch Rheinkapern, Disteln, Giersch und Hagebutte. Heimische Exoten kulinarisch neu entdeckt.
Ein über die Jahrzehnte gewachsenes Netzwerk an heimischen Jägern beliefert das Vieux mit Wild und Geflügel. Ich glaube, dass einzige, was hier nicht aus der Region ist, ist der Käse aus der Normandie – an einigen Punkten muss man als Normanne auch ein Zeichen der heimischen Region setzen - und das Salz, das immer noch und zwar ausschließlich regelmäßig von der Insel Noirmoutier importiert wird. Zugegeben, auch einige Gewürze und zahlreiche Weine kommen aus anderen Regionen als von Rhein und Ahr. Klarer Dreiklang: Regionales, Saisonales und dazu Passendes im Dienst des Geschmacks.
Das neue „Vieux-Sinzig“
Mit dem Umzug in das neue Vieux-Sinzig gleich auf die andere Seite der Kölner Straße haben sich die Dumaines im Jahr 2000 einen Lebenstraum erfüllt. Der Gastraum ist hell, Kräutermotive auf dem Boden lassen den Gast schon mit den ersten Schritten ins Restaurant erahnen, wer hier der wirkliche Star ist. Die Küche ist geöffnet und der Gastraum in Form eines Weinblattes gibt den Blick auf den Kräutergarten des Hauses frei. Vor über dreißig Jahren wurde Jean-Marie Dumaine zu einem Pionier der Wildkräuterküche. Ein anderer Traum, eines Tages mit einem Stern ausgezeichnet zu werden ist bis heute nicht in Erfüllung gegangen. Sicherlich war seine Wildkräuterküche für konservative Restaurantbewerter zunächst zu exotisch. Dass das Vieux-Sinzig in den folgenden Jahrzehnten, als sich der Blick auch auf Neuerungen in den Küchen weitete, und Wildkräuter längst in aller Munde waren, keine besternte Auszeichnung erhalten hat, kann man wohl lediglich mit der normativen Kraft des Faktischen der von sich überzeugten Restaurantführer erklären. Dafür aber hat Jean-Marie Dumaine eine wesentlich wichtigere Auszeichnung erhalten. Für viele junge Köche war und ist seine Küche nicht nur inspirierend, sondern auch Zeichen setzend. Sieht man, welche - auch durch Sterne ausgezeichnete - Küchen sein Konzept der regionalen Produkte verfolgen – heißen diese Richtungen nun „brutal Local“ oder „Nova Regio“ Küche – so kann man sehen, wie innovativ sein Handeln schon vor Jahrzehnten war. Hinzu kommen zahlreiche internationale Kochkollegen, besternte wie anders engagierte, die sich von seinem Stil haben inspirieren lassen. Hätte es vor Jahrzehnten schon die Auszeichnung des Impulsgebers der Branche gegeben, es wäre keine Frage, wer diesen Preis bekommen hätte. Jean-Marie Dumaine ist sich und seinem Kochstil treu geblieben, er hat ihn beständig und behutsam weiter entwickelt. Dabei bleibt sein Stil so unverwechselbar, wie er schon vor mehreren Jahrzehnten war: beispielgebende Avantgarde. Chapeau!
Hier geht es direkt zur saisonalen Speisekarte.
Tipp: Bei einem Besuch des Vieux-Sinzig sollte man sich, auch wenn man zufrieden gesättigt ist, noch mit den herausragenden Produkten der hauseigenen Manufaktur eindecken.
Eine solche Vielfalt und Qualität bekommt man ansonsten selten präsentiert.