Wie schmeckt akademischer Genuss?
In seiner „Psychoanalyse des Feuers“ legt Gaston Bachelard den Grundstein dafür Poesie und Wissenschaft wie zwei gut aufeinander abgestimmte Gegenstände zu verbinden und kommt dabei zu der lediglich auf den ersten Blick irritierenden Feststellung: „So weit man auch immer zurückgehen mag, der gastronomische Wert hat Vorrang vor dem Nährwert, in der Freude und nicht in der Not hat der Mensch zu seinem Geist gefunden.“
Diesen Genuss, denn Essen jenseits aller analytischen Zergliederung überhaupt in den Blick akademischer Diskussionen zu bekommen ist Anliegen des hier zu besprechenden Bandes.
Genuss von Sprache und Schmecken
In Vorwort zu „Der kulinarische Genuss“ skizziert der Herausgeber Alois Wierlacher die Eigenschaften des Mundes: Menschen reden, schmecken, kauen, küssen, singen und schimpfen vornehmlich mit (diesem) einzigen Organ.“ Zwar sprechen wir im akademischen Bereich öfter von den im Mund geformten Sprache, wie der Mündigkeit oder dem Stimmrecht in den Rechtswissenschaften, selten aber vom kulinarischen Genuss. „Der vorliegende Band will dazu beitragen, diese Situation zu verändern.“ So kurz, knackig und frisch wird das Thema nebst Stoßrichtung hier eingeführt, dass man sich die Wörter in ihrem würzigen Zusammenspiel gerne auf der Zunge zergehen lassen möchte.
In Summe geht es den Beiträgern darum, den Genuss in seiner akademischen Vielfalt und der damit einhergehenden interdisziplinären Synthese darzustellen, um beispielsweise vom akademisch etablierten ästhetischen Genuss Rückschlüsse auf den bisher noch akademisch eher stiefmütterlich behandelten kulinarischen Genuss stellen zu können. Eine Methode, die in ihrer Struktur an das Weben eines Teppichs erinnert. Denn wie die Kett- und Schussfäden, die einem Teppich seine Struktur verleihen, sind die Bezugnahme auf vorhandene akademische Genussbetrachtungen grundlegend, um den Resonanzboden der akademisch eher unbewussten Genussmomente vor Augen führen zu können, um das vielfältige Genussmuster akademischer Genussbeschäftigung, gerade wenn sie anscheinend nicht zur Form und Struktur der jeweiligen Fächerkanons entspricht, streiflichtartig beleuchten zu können. So entstehen neue Betrachtungslinien, um Genuss auch in seiner kulinarischen Form zu Wort kommen zu lassen. Denn erst, wenn Phänomene auf den Begriff zu bringen sind und man in der Lage ist, über sie zu diskutieren, oder – um an dieser Stelle das geflügelte Sprichwort zu verwenden: zu streiten, können sie der akademischen Betrachtung und Analyse zugeführt und über Geschmack interdisziplinär gestritten werden. Und es ist kein Wunder, das die eine Gabe der Zunge, diejenige Komplexe aromatische Strukturen synthetisch zu erfassen bisher den akademischen Zugang verwehrt bekommen hat. Akademisch galt bisher nur die analytische Fähigkeit der Zunge, Sachverhalte und Sinneseindrücke anhand von Worten und damit das Vermögen, die Arbeit des Verstandes zum Ausdruck zu bringen. Dieses Buch aber geht den umgekehrten Weg und spricht von den Eindrücken selbst: Der Sinn wird nicht gegen den Verstand ausgespielt, sondern beide Seiten als Teamplayer verstanden. Damit wendet sich das Buch, wie Wierlacher in seiner Einführung betont, gegen die jahrhundertealte Abwertung des Genusses, wie sie im Abendland gerade durch die Kirchen systematisch vollzogen wurde. Doch was genau ist der kulinarische Genuss und wie kann man ihn genießen? Wierlacher nennt zunächst vier Faktoren, die gegeben sein müssen:
Kulinarische Bildung im Bereich des sozialen Totalphänomens des Essens, als unhintergehbarer Grundpfeiler menschlicher Kommunikation und Gesellschaften, sowie ein Grundwissen über Lebensmittel, Speisen und ihre Zubereitung sowie ein Bewusstsein um die sinnliche Aufnahme kulinarischer Eindrücke. Wichtig aber ist vor allem die sprachliche Codierung des kulinarischen Genusses, der sich in Kommunikation entfaltet.
Und vielleicht ist es dieser Aspekt des kommunikativ vermittelten Genusses, der uns stets wieder in einen Genuss der vorsprachlichen Unmittelbarkeit befördert, in der wir mit der Muttermilch die Sprache – der anderen – aufgesogen haben. Es ist also dieser stille Genuss allein, der die Kommunikation der anderen mitschwingen lässt und der darauf verweist, dass wir im Zuge der individuellen Einverleibung eines Lebensmittels um dessen kulturell geteilten Wert wissen, und sei es nur anhand des gemeinsamen Essens am gedeckten Tisch. Stellt sich an dieser Stelle jedoch die Frage, ob der Genuss nicht eine besondere Ausprägung des zu genießenden, mithin des genießbaren, um Unterschied zum nicht genießbaren darstellt? Vor der sprachlichen Kommunikation wahren unsere Vorfahren ja darauf bedacht, die Dinge ihrer Umgebung in genau diese Kategorien zu unterscheiden, wobei ihnen neben den sinnlichen Eindrücken: Aussehen, Geruch, Konsistenz, Geschmack gleichfalls das Kochen, sei es direkt über offener Flamme, oder mit Hilfe eines Gefäßes in einer Flüssigkeit gegart oder geröstet wertvolle Hilfestellungen bot und zum einen die genießbaren Nahrungsmittel herausfilterte, oder die ungenießbaren mittels gekochter Veredelung in genießbare verwandelte (wie beispielsweise die Vielzahl der roh ungenießbaren menschlichen Grundnahrungsmittel: Reis, Kartoffeln, etc.). Es sind diese Bezugnahmen auf die Sinne, die Wierlacher behandelt, nachdem er den grundlegenden Kern seines Anliegens skizziert:
Das Verb essen, das eine nicht zu delegierende Handlung bezeichnet – wohingegen „Das Essen“ ein gesamtes System von potenziellen Genussmomenten, angefangen bei der Mahlzeit als Essenshandlung und Institution, ein Wirtschaftsgut und ein Kommunikationsmedium und somit einen Anker der Gastlichkeit bezeichnet – mithin den engen Bereich der tätigen Handlung auf eine interaktive Ebene stellt. Gekoppelt werden diese beiden Bereiche über den des Genusses, der mit (Lebensmittel-)Sicherheit, Vertrauen, Ästhetik der Speisenpräsentation zu tun hat und verstandesgeleitete Urteilsfähigkeit mit Kommunikationskompetenz zu verbinden weiß.
Somit verknüpft Wierlacher genau den Bereich, der die Individuen semantisch an die Gesellschaft knüpfen – ohne dass der Genuss bisher in den einschlägigen Lexika auch als kulinarischer herausgearbeitet worden wäre. Und genau diese individuelle Kollektivierung beobachten wir bei der Feststellung des Autors, das der kulinarische Genuss immer an einem Körper gebunden ist: Den des einzelnen Essers und den des kulinarisch-kulturellen Kollektivs mit ihren unterschiedlichen Geschmacksprofilen. Genuss, so lässt sich festhalten, ist nicht nur von einer Gesellschaft geprägt, es repräsentiert diese auch auf eine klar zu spezifizierende Art.
Interdisziplinarität
Vive eines on den thematisch grundlegenden Überlegungen eröffnet der Band anhand der Themen der Artikel einen weiten Kulinarik-Horizont. Dabei ist die Auswahl der jeweiligen Disziplinen von Soziologie über Germanistik, Liturgiewissenschaft, Linguistik, Sinologie, Geschichte und Philologie ebenso spannend wie die hier versammelten Themen und deren Autoren. Der Band wartet, neben den fundierten Beiträgen des Herausgebers, mit Artikeln des Soziologen Christian Stegbauer, des Ritual- und Literaturwissenschaftlers Burckhard Dücker, des Linguisten Hans Jürgen Heringer, des Liturgiewissenschaftlers Guido Fuchs, des Gastronomen Wolfgang Menge, des Gastronomiewissenschaftlers Wolfgang Fuchs, des Althistorikers Werner Tietz und des Sinologen Peter Kupfer auf.
Der gelernte Koch und Gründungsmitglied der Euro-Touques Deutschland e.V., Wolfgang P. Menge, geht der grundlegende Frage nach wie Genuss sich aus der Perspektive eines Kochs gestaltet und bildet somit das praktische Gegengewicht zu den anderen Arbeiten, die gewissermaßen diese Praxis theoretisieren und damit ihrerseits vertiefte Einblicke in die jeweilige Praxis ihrer Disziplinen im Hinblick auf den kulinarischen Genuss legen. Menge liefert in seiner Arbeit darüber hinaus einen fundierten Unterschied zwischen Produzent und Rezipient des Genuss und dies im Kontext zwischen Individual- und Industrieküche. Dies zunächst sperrig umschriebene Thema füllt zugleich eine eklatante Lücke. Denn bisher wurde in der Essensforschung die Perspektive der Genussproduzenten – sei es in der Küche, im Lebensmittelhandel oder in der Lebensmittelindustrie – eher stiefmütterlich behandelt. Zwar hat Chrles Spence mit seiner Gastrologik diesen Bereich umschrieben, doch dienen seine Arbeiten eher einem vermittelnden Verständnis, welche unterschiedliche n Aspekte uns an Lebensmitteln reizen (Das „frische“ Knacken der Chips, etc.). Und selbstverständlich wird der Genuss in kulinarischer Hinsicht, definiert wie der Genuss anderer Eindrücke: Als einer, der sich entwickeln kann, wenn man ihm genügend Aufmerksamkeit zukommen lässt, wobei der Koch sehr gerne die Funktion des Übungsleiters in Form von kulinarischer Aufklärung – im Hinblick auf Auswahl und Zubereitung der Lebensmittel, Verständnis von Rezepten, Gesundheit und Regionalität - übernehmen kann. Genuss auch in der Gemeinschaftsverpflegung lässt sich anhand dieser Kriterien durch frisch zubereitete Speisen täglich neu erlernen – ganz gegen die industriell geprägten Einheitsgeschmacksbilder. Entscheidend ist aber auch hier, auf ein hohes Niveau bei der Ausbildung der Köche zu achten. In Korea wird die Kulinarik nicht nur interdisziplinär an den Universitäten theoretisch betrieben, hier werden auch ganz praktisch Köche ausgebildet. Es wird Zeit über Koch-Akademien nicht nur zu sinnieren, sondern ganz praktisch nachzudenken.
Gerade in den Teilen der Beiträge, die auf scharfe Analyse exakter Aspekte der Kulinarik verweisen, gibt sich die Poesie des Themas zu erkennen. Wir sprechen von Essen und verbinden Theorie mit Praxis. Wenn Bachelard von einem Unbewussten des wissenschaftlichen Geistes spricht, so freut man sich darüber, dass dieses Unbewusste im Hinblick auf den kulinarischen Genuss anhand der Arbeiten dieses Bandes in vielen Bereichen ans Licht des Bewusstseins gelangt. Dafür gebührt dem Herausgeber wie den beteiligten Autoren mehr als nur Anerkennung, denn hier erschließt sich ein breites Feld zukünftiger kulturwissenschaftlicher Forschung.
Tartuffel empfiehlt:
Wierlacher, Alois (Hg.): Der kulinarische Genuss. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Jahrbuch für Kulinaristik, Band 5., Würzburg 2024 254 Seiten, 49,80€