Versteckter, leidenschaftlicher Genuss im fünften Viertel
Jetzt geht’s ums Quinto Quarto
Hand aufs Herz: Frome nose to tail ist ein frommer Wunsch, oder einfach eine gut funktionierende Marketingmasche. Schaut man sich die Stücke der Tiere an, die unter einem solchen Motto in verschiedenen Kochveranstaltungen angeboten werden, so trifft man hier - wenn es verwegen zugeht - auf die Füße, seltener schon auf den Kopf, sicherlich aber weder auf das Hirn, das Herz oder sonstige Stücke, die mit unserem Verständnis von Fleisch nichts zu tun haben.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir gelernt, dass ein Tier eigentlich nur aus Muskeln und Fasern, keinesfalls aber aus Innereien besteht. Gut: Sülze und Wurst, da könnte etwas versteckt sein, aber das wollen wir lieber nicht so genau wissen. In manchen Gegenden ist man Stolz auf die Blutwurst, irgendwie ist ja auch klar, das ein Tier Blut in sich trug. Aber es ist meist so schön verklärt wie im rheinischen „Himmel un Äd“ Himmel und Erde. Ein Gericht, das schon im Titel den zentralen Punkt der Blutwurst nicht benennt, und metaphorisch mit Kartoffel und den Apfel als Himmel und Erde den Rest auf dem Teller verschweigt.
Würde James Joyce heute leben, müsste er seinen "Ulysses" anders schreiben, denn allein der Gang in den Metzgerladen vor dem Frühstück, um eine – die letzte noch leicht bluttropfende – Niere käuflich erwerben zu können, lässt Leopold Bloom, den Protagonisten des Romans in eine wahre Odyssee stürzen.
Zunge, Schwanz und Füße der geschlachteten Tiere gibt es schon lange nicht mehr in den Auslagen der Metzgereien zu bewundern. Nieren scheinen ebenso abgeschafft wie Milz, Hirn oder Herz der ansonsten heißbegehrten Fleischlieferanten. Anscheinend beschreiten wir gesellschaftlich, vielleicht ohne es wirklich zu merken, einen Weg der geschmacklichen Infantilisierung. Begehrt ist Fleisch von immer jüngeren Tieren, Milchlämmern wenn möglich, Puten oder Schweinefilet. Die meist verkauften Fleischstücke eint ein Phänomen: Sie alle zeichnen sich durch das weitgehende Fehlen von Eigengeschmack aus. Fleisch verkommt so zu einem Geschmacksträger der Röstarmomen, Gewürze und Saucen. Ganz wie der Patty im konventionell gebauten Burger, bei dem man sich unweigerlich die Frage stellt, ob denn wirklich ein Tier sterben soll, wenn es hier geschmacklich bestimmt um einiges, aber nicht um den Geschmack von Fleisch geht.
Zunehmend gewöhnen wir uns daran in Fleisch nur noch eine abgepackte Konfektionsware für den heimischen Herd zu sehen. Herz, Niere, Zunge oder Füße erinnern uns – zumeist irritierend – an das Tier. Wir erkennen in den intakten Fraktalen auf einmal mehr als eben nur ein Stück Fleisch.
Wirklicher Geschmack
Es wäre wünschenswert, wenn der Trend zu artgerechter Tierhaltung durch den Trend der nachhaltigen Nachfrage von Tierprodukten Unterstützung finden und somit eine Hinwendung zum fünften Viertel des Tieres - seinen Innereien und seinen bisher weitgehend verschmähten Stücken - zeitigen würde. Das hier vorliegende Buch lädt auf genussvolle und einfache Art dazu ein. Blicken wir dem Tier also nicht nur in die Augen, sondern auch unter die Muskeln, die Fasern und das Fett.
Klassische Rezepte von Kopf bis Fuß, von Herz bis Niere verspricht der im AT-Verlag erschienene Band von Cornelia Schinharl und Beat Koelliker. Und in der Tat, man merkt den Autoren die Liebe zu ihrem Thema auf jeder Seite des Buches an. Hier geht es um klassische römische Rezepte zu Innereien. Der Band beginnt mit dem Kopf von Kalb und Schwein, um dann die thematische Bandbreite mit den Füßen dieser Tiere auszumessen. Anschließend werden die anderen Teile der Tiere in Wort, Bild und Rezept näher behandelt, bei denen es um den wirklichen Geschmack geht. Der Geschmack von Milz, Leber, Herz und Niere, ein Geschmack, den wir langsam vergessen, da wir die Teile der Tiere beim Metzger - auch bei dem unseres Vertrauens - nicht mehr nachfragen. Sie sind zentraler Teil und die wirklichen Protagonisten dieses einfach grandiosen Bandes.
Und sicherlich ist es kein Zufall, dass das Autorenduo auf Anna Dente traf. Anna ist Gründerin der „Osteria di San Cesario“ und die Hauptfigur des Bandes. Denn mit ihren Rezepten bringt sie uns nicht nur ihre Tartorria näher, sondern auch den Geschmack der Küchen der Stadt, die früher die armen Leute mit ihren Quinto Quarto Gerichten preiswert und gut nährten. Hierbei ist eine Küche entstanden, die über Generationen verfeinert im Kern aber gegen alle Moden verteidigt wurde und Anna, selbst Tochter eines Metzgers, ist eine der wenigen Personen, die diese Küche nicht nur täglich zubereiten, sondern sie mit Leben erfüllen. Das Buch entführt uns dank der großartigen und zugleich scheinbar unaufdringlichen Bilder von Michael Schinharl und der zugänglichen Rezepte von Anna Dente auf eine kulinarische Reise durch Rom, bei der schon die ersten Anti-Pasti Gerichte sich nicht die Mühe geben, dem hiesigen Klischee der mediterranen Küche genügen zu wollen. Und es ist grandios, wenn das erste Rezept erfrischend außergewöhnlich und schlicht zum Nachkochen einlädt.
Damit ist ein Ton vorgegeben, den auch die übrigen Rezepte phrasiert fortführen werden. Hier also wird der Kalbskopf mit Gemüsevinaigrette – ein Gericht, das leider auf Bistrokarten hierzulande schon komplett verschwunden scheint – mit einer Vinaigrette aus Staudensellerie, Zitronensaft, Öl, Karotten und Petersilie zubereitet. Einfache, zugängliche Aromen, die auch den noch warmen Kalbskopf zu einer Delikatesse werden lassen, die einen wohltuenden Gegenpol zu in Öl liegenden gerösteten Paprika- oder Zucchinischeiben, also den gängigen Antipastiverdächtigen abgeben. Wo, so kann man nach kurzer Lektüre fragen, findet man schon einfache Rezepte für eine Schweinkopfsülze oder einen Salat aus Kalbsfüßen? Hier wird man fündig. Wer einmal die hier vorgestellte Leberpastete gekocht hat, wird begreifen, dass manche Genüsse großartig und relativ schlicht sein können. Damit ist aber erst der Einstieg in dieses Buch getan, es entführt uns weiter in die Küche, die nach Wolfram Siebeck als „verpönt“ gilt (der ihr unter diesem Namen aber ein Denkmal gesetzt hat).
Selber wursten
Und mal ganz ehrlich: Wo Bitteschön findet man denn noch ein Buch, das sich wirklich liebevoll mit einem angeblich unappetitlichen Detail unserer Esskultur widmet. Im vorliegenden Band wird man nicht nur darüber aufgeklärt, wie schön man in Rom Zunge und Milz zuzubereiten versteht, sondern man bekommt auch ein schnell nachvollziehbares Rezept einer Salsiccia, der italienischen Fenchelwurst geliefert, um auf dieser Grundlage selbst einmal in der heimischer Küche wursten zu können.
Es wird Zeit, dass wir uns dieser Küche wieder zuwenden und bewusst den fünften Teil des Tieres einfordern. Sonst geraten nicht nur die Rezepte, ihre generationenübergreifende Vermittlung und das Wissen um diese wertvollen Teile der Tiere in Vergessenheit: Die meisten Teile landen schon heute nicht mehr einfach in der Wurst oder im Export, sondern schlicht in der Tonne. Um dort zu landen sollten aber Tiere weder aufgezogen noch geschlachtet werden.
Tiere sind mehr als Fleischlieferanten. Und es wird Zeit, dass wir uns dem wirklichen Geschmack von Tieren zuwenden. Es wird Zeit, dass wir mit unseren eigenen Vorurteilen aufräumen und zumindest den Versuch unternehmen, die Teile des Tieres zu entdecken, die wir jetzt schon nicht mehr in der Auslage des Metzgers zu sehen bekommen. Das vorliegende Buch breitet dazu nicht nur anregend Wissen um die Innereien und ihre Zubereitungen aus, es bereitet Vorfreude und Lust, sich den inneren Werten schauend, riechend, tastend, kochend, schmeckend zu nähern. Es muss ja nicht immer Blutwurst sein.
Für Sie gelesen
Cornelia Schinharl, Beat Koelliker: Quinto Quarto. Von Kopf bis Fuß, von Herz bis Niere. Klassische Rezepte aus der römischen Küche. AT-Verlag Aarau und München 2015. 224 Seiten geb. 26.95€
Lektüretipp
Wolfram Siebeck: Kochbuch der verpönten Küche. Edition Braus. 200 Seiten geb. Sammlerobjekt.