Realitäts-Hunger
Sprache, Essen und das Ding an sich
Die Klage über den Mangel an Realität übersieht zwei wesentliche Fakten. Zum einen sind die Dinge, die wir tun, für uns stets Dinge der Realität. Diese Dinge werden durch unseren praktischen Vollzug real. Wenn wir telefonieren, dann ist das Telefonat für uns erlebte Realität. Das Telefon befreit uns dabei lediglich vom Zwang, mit unserem Gesprächspartner in unmittelbare physische Nähe treten zu müssen.
Entscheidender aber ist, dass wir den Dingen an sich immer schon entrückt sind. Im Zuge unserer gesellschaftlichen Entwicklung haben wir ein symbolisches Universum erfunden, um vom Realen der Dinge nicht überschwemmt zu werden. Dies ist der Grund, weshalb wir im Laufe unserer Kindheit lernen, Dinge bei einem bestimmten Namen zu nennen. So können wir uns die Dinge und damit das Reale ein Stück weit vom Leib halten und derart die Grundbedingung von Sprache erfüllen. Jede sprachliche Benennung eines Dinges, verschleiert das Ding „an sich“ und sei es auch nur hinter dem Mantel eines Wortes. Wenn ich an dieser Stelle ein Brot beschreibe, dann merken Sie sofort, dass ich Ihnen nur die Beschreibung von etwas geben kann, was Sie sich vorstellen können. Mithin befinden wir uns in einer anderen Realität als in der Realität „an sich“. Auch wenn ich hier „Brot“ schreibe, haben sie dadurch kein Brot auf dem Schreibtisch liegen.
Kultur trifft Natur
Wenn wir den Dingen direkt begegnen wollen, haben wir die Möglichkeit, sie uns einzuverleiben. Die Dinge zu essen, oder besser noch, sie zu kosten, bringt uns dazu, den wahren Wert der Dinge für uns zu erfahren. Dabei hat dieser Vorgang sehr viel mit Neugierde und einem sensorischen Erlebnis zu tun. Wie besser als über unsere Sinne sollten wir uns einem Ding nähern? Essen hat also auch eine Menge mit Erfassen zu tun. Sich den Gegenstand ansehen, ihn begutachten, schauen, wie er beschaffen ist und damit sich selber Zeit zu nehmen, um sich dem Gegenstand gegenüber zu öffnen, ihn im wahrsten Sinne des Wortes beachten. Im zweiten Schritt muss man ihn riechen, schließlich erkennen wir über den Geruch relativ präzise, ob ein Lebensmittel verdorben ist oder nicht. Um das sensorische Spiel weiter zu führen, sollte man ihn natürlich betasten und ihn erst dann in den Mund nehmen, um seine Textur zu erfahren, seine Aromen zu erschmecken.
Zu den Dingen selbst – auch wenn sie dazu meistens nicht roh sondern gekocht sind, also schon eine kulturelle Überformung erfahren haben wie Claude Levi Strauss herausgearbeitet hat – gelangen wir also durch Einverleibung, profan ausgedrückt durch Speise und Trank.
Zum Glück ist das gemeinsame Mahl eine kulturelle Errungenschaft, welche uns diese direkte Begegnung mit der Realität, mit dem realen Ding an sich, wieder weitgehend vergessen macht. Wir erleben das Gekochte, achten seine Aromen, seine Finesse und unterhalten uns über das zubereitete Mahl, um zu vergessen, dass wir gerade für diesen Moment unseren Hunger nach Realität wieder einmal gestillt haben.
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Buchrezension von David Shields "Reality Hunger"
Autor: Nikolai Wojtko
Datum: 25. Mai 2011