Proustsche Madeleines in Dresden
Denn hier, genauer im „Deutschen Archiv der Kulinarik“ hat man sich nicht nur akademische Gedanken zum scheinbaren Widerspruch der beiden Praktiken von Archiv und Kulinarik gemacht, sondern auch eine überaus passende Lösung gefunden.
Entscheidend bei archivarischer Arbeit ist in erster Linie die Erhaltung des gegebenen Zustands eines zu archivierenden Gegenstandes, eine Praxis der Konservierung. Kulinarische Gerichte sind hingegen eher auf ihren sofortigen Genuss hin konzipiert, also Dinge der Vergänglichkeit. So verstanden mutet die Idee eines Archivs für Kulinarik wie ein Widerspruch in sich an. Doch bei genauerer Betrachtung ist dieser Unterschied nur ein peripherer und ein solches Archiv nicht nur eine gute Idee, sondern eine, die richtig umgesetzt Leuchtturmpotential entwickelt. Denn ein Archiv schmackhaft werden zu lassen ist eine erstaunlich anregende Herangehensweise, um diese scheinbar getrennten Welten miteinander zu vermählen. Geht es doch darum die Theorie der einen mit der Praxis der anderen zu verbinden: Kulinarik theoretisch verstanden verdient einen festen Platz im Archiv. Ein Archiv kulinarisch verstanden, aber immer auch einen in den Küchen der Welt. Heute für die Zukunft gedacht, damit Gerichte der Vergangenheit auch in Zukunft verführerisch zubereitet werden können.
Food Studio und Deutsches Archiv für Kulinarik
Das Food Studio wurde 2022 gemeinsam mit dem Archiv für Kulinarik gegründet, um dem Archiv auch einen produktiven Raum zu geben. Aktuell werden die ersten Bände der Sammlung Witzigmann in den Bestand des Archivs überführt. Immerhin rund 6.000 Bände, die also etliche Regalmeter füllen und schon jetzt ein beeindruckendes Zeugnis davon ablegen, wie aktuell sich der Jahrhundertkoch seit den frühen 70er Jahren kulinarisch fortbildete. Die umfangreiche Kulinarik-Sammlung mit Handschriften, Büchern und Zeitschriften sowie Menükarten, Gebrauchsgrafik, Fotografien und audiovisuellen Medien gehört deutschlandweit zu den bedeutendsten ihrer Art. Zu den Highlights zählen Sammlungen von Ernst Birsner, Walter Putz und Wolfram Siebeck. Die Kulinarik-Sammlung bildet die Grundlage für die inter- und transdisziplinäre Forschung in den Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften rund um die Themen Kochkunst, Tafelkultur und Ernährungskunde.
Kulinarisches Archiv – wissenschaftlich und praktisch
Um ein an einer Universität angelegtes Archiv aber auch kulinarisch praktisch werden zu lassen, legt man in Dresden nicht nur auf wissenschaftlichen und interdisziplinäre Forschung Wert, sondern auch auf die Öffnung im Hinblick auf die Personen, die sich jenseits wissenschaftlicher Fakultäten ebenso professionell mit der Kulinarik befassen: Sei es am Herd, oder an der Tastatur, als Koch, Restaurantkritiker oder Gastrosoph. Mit Jürgen Dollase engagierte man nicht nur einen der namhaftesten Restaurantkritiker des Landes, sondern auch einen Autor, der sich in seinen Büchern um die Entwicklung der kulinarischen Intelligenz einen Namen gemacht hat. Auf ihn ist auch die Idee zurückzuführen, jedes Jahr fünf Köche zu ehren, indem man ausgesuchte Gerichte von Ihnen dem Archiv zuführt, um sie auf diese Weise für die Zukunft nutzbar werden zu lassen. Damit jedoch Rezepte samt Dokumentation nicht einfach so im Archiv verschwinden, wird die Übergabe standesgemäß durch eine feierliche Preisverleihung gewürdigt und die Rezepte im Rahmen eines festlichen Dinners präsentiert. Um auf diese Weise ganz praktisch ein kulinarisches Geschmacksgedächtnis zu schaffen. Und so war auch die Auswahl der Gerichte und ihrer Köche von der Idee geleitet, hier etwas zu präsentieren, was bereits im Rang eines Klassikers fungiert, oder schon heute das Potential entwickelt hat, sich in Zukunft zu einem Klassiker zu entwickeln, um für kulinarisch Interessierte in der Zukunft einen Einblick in die gegenwärtige Welt der Kochkunst zu geben. Zur feierlichen Aufnahme ihrer Kreationen in das Deutsche Archiv der Kulinarik erhielten die Köche neben Urkunden eigens gestaltete Gefäßstatuetten der Berliner Designerin Stefanie Hering. „Als ich das Projekt Geschmacksdokumentationen des Deutschen Archivs der Kulinarik kennenlernte, war ich sofort begeistert“, sagt Stefanie Hering. „Die hohe Kunst des Kochens ist eng mit meiner Arbeit verbunden, die für die Werke der Spitzenköche die gebührende Bühne schafft. Es war mir daher eine große Ehre und Freude, in Würdigung der ausgewählten Gerichte und ihrer Schöpfer eine Serie von Porzellan-Unikaten zu schaffen, die als Statuetten dauerhaft an diese Auszeichnung erinnern.“
Prousts Madeleine
Am 28. Oktober 2024 hat Jürgen Dollase dem Deutschen Archiv der Kulinarik in Dresden im Beisein der Spitzenköche Marc Haeberlin**, Christian Hümbs, Torsten Michel***, Stefan Neugebauer* und Joachim Wissler** fünf neue Dokumentationen übergeben. Damit sind hochklassige kulinarische Kreationen und zeittypische Gerichte dieser Köche so präzise dokumentiert, dass ihre Zubereitung und gustatorische Wahrnehmung auch von späteren Generationen nachvollziehbar rekonstruiert werden können. Die bisher einzigartige Reihe von Geschmacksdokumentationen hatten die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden und die Technische Universität Dresden (TUD) 2023 gemeinsam initiiert.
Spannend in diesem Zusammenhang ist die Aussage Marc Haeberlins, der in diesem Jahr einer der fünf Preisträger ist. Sein schon von seinem Vater geführtes Restaurant Auberge de l'Ill zählt in Frankreich zu einer kulinarischen Institution, die über ein halbes Jahrhundert hinweg mit drei Michelin Sternen ausgezeichnet wurde. Marc Haeberlin verweist darauf, dass es ihm sehr wichtig ist, auf seiner Karte stets ein paar Klassiker des Hauses zu haben, die mittlerweile zeitlos sind und sowohl für Stammgäste als auch junge Menschen und vor allem auch junge Köche so etwas sind, wie die in Frankreich sprichtwörtlichen Proustschen Madeleines: Jene Geschmackserlebnisse also, die so klassisch sind, das sie die Grenzen von Zeit und Raum aufzuheben scheinen. Genau mit dieser Formulierung, welche die literarische mit der der Kochkunst bestens verbindet und zeigt der Koch auf, welche künstlerischen Kontexte bewusst eingesetzte Kochkunst zu beleuchten versteht. Damit verweist der elsässische Koch zugleich auf die Möglichkeiten, die ein kulinarisches Archiv für die Zukunft bietet. Proust Romanzyklus: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stellt die Kochkunst ganz selbstverständlich als eine dar, welche den anderen Künsten gleichberechtigt gegenübersteht, ja diese sogar ein wenig überragt, da sie immer sehr praktisch bei gemeinsamen Essen am Tisch zur Reflektion über sie und damit auch über die anderen Künste anregt. Eine Idee der Kochkunst der Belle Epoque liefert sein epochaler Roman, der auf diese Weise wie ein kulinarisches Archiv in Romanform wirkt.
Nicht zufällig wird Marc Haeberlin nicht sein gewürdigtes Werk, den „Saumon soufflé“ präsentieren, sondern ein Gericht, welches über die Gegenwart auf seine eigene Geschichte bis weit in die Zeit von Proust verweist: Er präsentiert den Gästen am Abend einen Klassiker der französischen Küche: Eine Fois Gras im Brioche – ein zeitloser Genuss, der bei jedem Esser unterschiedliche Assoziationen auslösen wird und damit ein perfektes Beispiel dafür ist, was ein kulinarisches Archiv zu leisten vermag: Den Genuss der Vergangenheit in der Gegenwart lebendig werden zu lassen, um ihn für die Zukunft zu erhalten.
Die Spitzenköche und ihr dokumentiertes kulinarisches Werk
Marc Haeberlin** | Auberge de l'Ill
Seit 1967 gehört Haeberlins Restaurant im Elsass, das L’Auberge de l’Ill, zu den besten Gourmet-Adressen in Frankreich. Das Restaurant pflegt seit jeher einen Bezug zur regionalen Küche und hat sich wie kein anderes darum verdient gemacht, die exquisite Kochkunst Frankreichs nach Deutschland zu vermitteln.
Das kulinarische Werk: La brioche de foie gras
Joachim Wissler** | Vendôme
Joachim Wissler ist einer der profiliertesten Protagonisten der Avantgarde-Küche in Deutschland. Joachim Wisslers Kompositionen greifen kulinarische Traditionen auf und entwickeln sie mit avantgardistischem Gedankengut zu einer Küche, die auf der Höhe der Spitzenleistungen rangiert und in Deutschland seit vielen Jahren Maßstäbe setzt.
Das kulinarische Werk: Schwertmuschelcarpaccio mit Imperial-Caviar, Buttermilchvinaigrette, Liebstöckel und Kartoffel-Buchweizen Madeleine
Stefan Neugebauer* | Deidesheimer Hof
Als verführerisches Regional-Gericht aus Edelprodukten serviert Stefan Neugebauer den Pfälzer Saumagen. Er ist ein Sternekoch mit einem klassischen Verständnis für das Spiel mit Aromen. Stefan Neugebauers stilvoller Geschmack hat Staatsgästen von Helmut Kohl Regionalküche in exquisiter Variante präsentiert.
Das kulinarische Werk: Pfälzer Saumagen
Torsten Michel*** | Schwarzwaldstube
Der in Dresden geborene Torsten Michel ist einer von zehn Drei-Sterne-Köchen in Deutschland. Im Dresdner Hotel Bellevue absolvierte er seine Lehre und arbeitete von 2000 bis 2004 im Bülow Palais, bevor er in die Traube Tonbach nach Baiersbronn wechselte. Torsten Michel steht in der Tradition der klassischen Haute Cuisine und kocht sie mit besten Produkten in klassischen Kombinationen.
Das kulinarische Werk: Wildhase aus dem Burgenland nach königlicher Art - Lièvre à la royale
Christian Hümbs | TV-Koch und Juror für Patisserie, vormals Pâtissier in 2-und 3-Sterne-Restaurants
Desserts von Christian Hümbs erschließen sich nicht, wenn man bei der Degustation jedem einzelnen Aroma nachschmeckt. Isst man sie rasch in kleinen Mengen, bleibt ein „Gewürzraum“ des vorangegangenen Löffels im Gaumen und wirkt sich auf die Wahrnehmung des nächsten Essens im Mund aus. Es entsteht ein komplexer Geschmack, der von Höhepunkt zu Höhepunkt changiert.
Das kulinarische Werk: Gesäuerter Kopfsalat mit Yuzu, Petersilie und geröstetem Roggen
Weitere Informationen zu den Geschmacksdokumentationen finden sich hier.