Once
Über den sinnlichen Mehrwert einer chilenischen Mahlzeit
Beurteilen wir ein Gericht, reden wir über die Güte seiner Zutaten, über Handwerk und Kunst der Zubereitung sowie nicht zuletzt über die Eindrücke, die das Essen in uns erzeugt. Was schmecken wir? Woran lässt uns das Essen denken? Worüber macht es uns reden? Auch wenn wir über die typische Küche einer Region nachdenken, halten wir fest an diesen Begriffen und Konzepten. Sie sind es, die mit und nach der sinnlichen Aufnahme der Speise nun auch deren gedankliches Einverleiben befördern. Erst jetzt verstehen wir das Essen und können es nacherzählen.
Dieses Verständnis wächst, sobald wir betrachten, warum Menschen zu welchen Mahlzeiten zusammenkommen. Was macht diese Rituale des Essens aus, die uns immer wieder zusammenführen und uns gar eine gemeinsame Identität vermitteln? Es sind schließlich nicht „nur“ die Zutaten und die Zubereitung, die uns an der Tapa-Kultur beeindrucken. Es ist mehr als Tee und Gebäck, was wir mit der englischen Tea Time verbinden, und es ist genau ein solcher Mehrwert, der die „Cuisine Française“ als immaterielles Weltkulturerbe auszeichnet.
Typisch Once
Das sollte man im Kopf - und möglicherweise auf der Zunge - haben, wenn man sich der chilenischen Once nähert, dieser ganz eigenen Mahlzeit mit vielgliedriger Tradition. Dabei erweist sich als typisch an der chilenischen Küche, dass sie eine multikulturelle Komposition ist. Einflüsse - sprich Zutaten und Zubereitung - aus den Herkunftsländern der Einwanderer verbinden sich mit den Früchten und Fischen, den Kräutern und Fleischsorten des Landes sowie der Esskultur der indogenen Einwohner.
Die imaginäre Speisekarte der Once umfasst beispielsweise Tee und Kaffee, Brot und Brötchen - marraqueta - Kekse und Schmalzgebäck - picarones - aber auch „berlines“ und „kuchen“. Sie vermählt spanische, englische und deutsche „Zutaten“ zu einer echten chilenischen Nachmittagsmahlzeit. Mittlerweile gesellen sich zur Once auch deftigere Speisen, aber auch Cerealien, so dass sie in der Alltagskultur Chiles mehr und mehr das Abendessen - die cena - ersetzt.
Vielstimmige Herkunft
Doch die Once führt nicht nur kulinarische Geschichten zusammen. Ihre Begriffsgeschichte selbst ist vielstimmig und nicht frei von Ironie. Beginnen wir mit dem nahliegenden, denn „once“ ist zunächst nichts anderes als das spanischen Zahlenwort elf. Da die Once jedoch um fünf Uhr Nachmittags eingenommen wird, ist bereits der Umweg über die katholische Stundenzählung notwendig, um die elf zu erklären. Der ordentliche katholische Tag beginnt halt um sechs Uhr in der Frühe, so dass die elfte Stunde eben um 17:00 Uhr eingeläutet wird.
Andererseits beruft sich diese Uhrzeit auf die klassische Tea Time der Engländer, die verwirrenderweise in ihrer vormittäglichen Variante auch „elevenses“ genannt wird. Diese Mahl-Zeit verweist zudem auf die spanische „merienda“ und insbesondere die „hamaiketako“ der baskischen Einwanderer. Eine weitere Herleitung der Once rührt aus der Anzahl der Buchstaben des Wortes „aguardiente“ her, das nichts anderes als Schnaps bedeutet. Vor der Unabhängigkeit Chiles ist der Konsum von Alkohol verboten. Was die Chilenen natürlich nicht davon abhält zu trinken. Abhilfe bringt die nachmittägliche Mahlzeit, die mit dem Codewort Once belegt wird, das eindeutig zweideutig anzeigt, dass dem Mann oder der Frau nach Alkohol ist.
Interessanterweise gibt es diese Geschichte in einer Frauen- und in einer Männer-Variante. Einmal sind es die beim Tee zusammensitzenden Damen, die sich einen Schluck gönnen. In der anderen Version, sind es die Männer, die in der Arbeitspause am Nachmittag eine besondere Stärkung einfordern.
Wie das Idyll von Heimat und Liebe schmeckt
So erzählt die Once verschiedene kollektive Geschichten und unzählige, ganz persönliche. Eine, in der die Once zu einer Vorstellung von Heimat und Glück gerinnt, findet sich in einem Roman von Roberto Bolaño.
"Amalfitano hatte häufig Albträume. Der Traum (einer, in dem sich Edith Liebermann und Padilla zu einer Once trafen, einem chilenischen Brunch mit Tee, Knusperschnitten und Butterbirne, Tomatenmarmelade von seiner Mutter, süßen Hefebrötchen und hausgemachter Butter, zartgelb wie die Papiere von Ingres-Fabiano) öffnete sich und gab den Weg frei für den Albtraum."
Dem Albtraum vom erzwungenen Exil und dem schmerzhaften Verlust seiner Frau, der den Protagonisten in „Die wahren Nöte des Polizisten“ plagt, geht eine Traumsequenz voraus, die ihn mit einem Idyll von Heimat und Liebe umgibt. Die Vorstellung einer gemeinsamen Once, die dadurch imaginierte sinnliche Nähe zu seiner damaligen Frau Edith und dem gegenwärtigen Geliebten Padilla sind aber auch eine bitter ironische Anspielung auf die Madeleines aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Denn das Idyll ist ein verlorenes, Amalfitano - wie der Autor Roberto Bolaño selbst - lebt im Exil. So steht die geträumte Once für den von Politik und Gewalt befreiten Nachgeschmack der versperrten chilenischen Heimat. Das Exil aber ist ein polyglottes Schicksal, eines, das viele Zungen kennt, also verschiedene Sprachen spricht und unterschiedliche Küchen schmeckt. Der fiktive Amalfitano wie der reale Bolaño leben in Spanien und Mexico, sind mit Deutschland und Frankreich vertraut. Eigentlich sind sie damit der Herkunft mancher Once-Zutat näher als in Chile selbst und dennoch wird die Heimat sinnlich versagt. Es ist dieser Mehrwert, der fehlt. Die kollektive Identität der Once überlebt kein Exil.
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Charaktere: Oblomow im Schlaraffenland
Bücher: Die ungeahnten Verdienste des Monsieur Balzac
Zutaten: Tapas
Köpfe: Marcel Proust
Zur Lektüre empfohlen
Roberto Bolaño: Die wahren Nöte des Polizisten, Carl Hanser Verlag München 2013, 272 Seiten geb., 21,90€
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