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Russische Impressionen | © Vera Bischitzky

Oblomow im Schlaraffenland

Hedonisten sind in Verruf geraten - wenn das Iwan Gontscharow wüsste! 1859 im Erscheinungsjahr seines legendären Romans „Oblomow“ beschrieb der russische Autor in einem Brief aus dem böhmischen Marienbad mit der ihm eigenen Selbstironie die Reize diverser mondäner Hotelrestaurants.

Über den Romanhelden und seinen Autor

Eines dieser Hotels, berichtete er, besuche er nicht mehr, schließlich serviere man dort gerade einmal zwölf Gerichte, „statt dessen gehe ich jetzt in ein anderes, wo 15 Gänge serviert werden, aber ich habe gehört, dass ganz in der Nähe von uns 18 aufgetischt werden, da muß ich natürlich hin.“

Kulinarische Exzesse finden sich denn auch zu Hauf in Gontscharows berühmtestem Roman. Sein Protagonist, der Weltverweigerer Ilja Oblomow, ist der Oblomowerei verfallen, einem Dämmerzustand, in dem er 740 Buchseiten lang verharrt, beschirmt von der analytischen, liebe- und humorvollen Anteilnahme des Autors. Jahrzehnte vor Sigmund Freud zeigt er uns, wie aus einem fröhlichen Kind ein teilnahmsloser Melancholiker werden kann. „Der reinste Teigklumpen, hast dich zusammengerollt und liegst da“, wie Oblomows Freund Andrej diagnostiziert. Auch 150 Jahre später kann man dem Helden diese Anteilnahme schwerlich verweigern, allen absonderlichen Umständen zum Trotz.

Zentrum des Tages der Mittagsschlaf

Wer liest, wie das Oblomowsche Haus nach einer mehr als reichhaltigen Mittagsmahlzeit ein Schläfchen hält, möchte sich glatt dazu legen. Vater, Mutter, Tanten laufen in allerlei Winkel auseinander, „wer aber keinen hat, der ist auf den Heuboden geklettert, ein anderer in den Garten gegangen, ein dritter sucht Kühlung in der Diele, und manch einer, das Gesicht gegen die Fliegen mit einem Tuch bedeckt, ist gleich dort eingenickt, wo ihn die Hitze peinigt und das üppige Mittagessen zu Boden gestreckt hat.“ Kaum ein zweiter Autor hat die Stunde des Mittagsschlafs so anschaulich geschildert. Der Gärtner hat es sich unter einem Strauch bequem gemacht und ist neben seiner Hacke eingeschlafen, der Kutscher döst im Stall, in der Gesindestube liegt alles der Länge lang da und ist in einen durch nichts zu besiegenden totenähnlichen Schlaf versunken. Aus sämtlichen Winkeln ertönt vielstimmiges Schnarchen, hin und wieder hebt jemand im Schlaf den Kopf, „spuckt schlaftrunken aus, ohne die Augen aufzumachen, und schläft dann, nachdem er etwas in seinen Bart gemurmelt und geschmatzt hat, wieder ein.“ Ein anderer springt hastig von seinem Lager hoch, „als fürchte er, wertvolle Minuten zu verlieren, greift nach dem Kwaskrug, pustet die darin schwimmenden Fliegen weg, damit es sie an den anderen Rand treibt, wovon die bis dahin reglosen Fliegen in der Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lage in lebhafte Bewegung geraten, netzt seine Kehle und fällt dann wieder wie erschossen aufs Bett zurück.“

Kaum aufgewacht, versammelt man sich erneut - zur Teestunde. Einer mit zerknittertem Gesicht und tränenden Augen, ein anderer hat vom Liegen einen roten Fleck an der Wange und spricht mit schlaftrunkener Stimme. Man schnauft, gähnt und räkelt sich. Das Mittagessen hat alle ungeheuer durstig gemacht. „Jeder trinkt seine zwölf Tassen Tee, doch das hilft nichts: das Ächzen und Stöhnen nimmt kein Ende.“ Preiselbeersaft,  Birnenwasser und Kwas kommen zum Einsatz, auch wohl das eine oder andere Medikament, „nur um die Dürre in der Kehle loszuwerden. Jedermann sucht Erlösung vom Durst wie von einer Strafe Gottes; alles wankt und taumelt einer Karawane von Reisenden in der arabischen Steppe gleich, die nirgends eine Wasserquelle finden kann.“

Tafeln und Trinken

Dass hier von russischen Verhältnissen die Rede sein muss, wird spätestens klar, wenn der Kwas ins Spiel kommt, dieses heute auch in Russland aus der Mode gekommene Getränk. Ja, aufs Tafeln verstand man sich in Oblomows Welt, galt doch die Sorge um überreichliche Mahlzeiten als vorrangigste Aufgabe in Oblomowka, dem Familiengut des Helden. Allein 197 Mal begegnen uns im Roman die Vokabeln Frühstück, Mittagessen, Abendessen und überhaupt „essen“ in allerlei Ableitungen, dicht gefolgt vom „Schlaf“ in verschiedensten Variationen: 163 Mal Mittagsschlaf, Halbschlaf, es wird eingeschlafen, weiter geschlafen, verschlafen – wobei der legendäre Schlafrock und das Schlafzimmer nicht einmal mitgezählt sind!

So beratschlagen die Bewohner von Oblomowka denn unentwegt über die tägliche Speisefolge, sie träumen, tafeln, ruhen, philosophieren. Über Oblomows Vater heißt es ironisch: „Auch der alte Oblomow ist nicht untätig. Den ganzen Vormittag schon sitzt er am Fenster und beobachtet unermüdlich alles, was auf dem Hof vor sich geht.“

Aber es kommt der Tag, da der Held aus seinem heimatlichen Schlaraffenland vertrieben wird. Ja, mehr als das, weil die angebetete Olga es so will, gewöhnt sich Oblomow aus Liebe, wenn auch nur für kurze Zeit, sogar das Abendessen ab – Dinner-cancelling heißt bekanntlich der neudeutsche Ausdruck dafür! Zudem weiß er (allerdings nur zwei Wochen lang) „nicht mehr, was es heißt, sich am Tage hinzulegen.“ Es soll ungesund sein, sagt man ihm, vom drohenden Schlaganfall ist gar die Rede. Was für Opfer Verliebte nicht alles auf sich nehmen! Doch bekanntlich lassen sich alte Gewohnheiten nur selten ablegen und so findet sich eines Tages denn auch Ersatz für das verlorene Paradies: eine Petersburger Witwe tritt auf den Plan, Quarktaschen und Brötchen aus feinstem Milchteig kommen auf den Tisch und köstlicher Kaffee mit fetter Sahne, Haselhühner, Austern, Stör und Lachs werden aufgefahren und auch Madeira, Champagner, Porter und Johannisbeerschnaps in Hülle und Fülle. „Große Glasgefäße voller Kaffee, Zimt und Vanille, kristallene Teebüchsen, Menagen mit Öl und Essig“ stehen zu Diensten, Schinken, Käse, Zuckerhüte, Dörrfische, Säcke mit getrockneten Pilzen und mit Nüssen hängen von der Decke. Und all die Butterfässer, die Bütten mit saurer Sahne, die Körbe mit Eiern – „was gab es hier nicht alles! Es bedarf der Feder eines zweiten Homer, um erschöpfend und im Einzelnen aufzuzählen, was in sämtlichen Ecken und Regalen dieser kleinen Arche des häuslichen Lebens angehäuft war.“

Der Autor und die Zwiebel

Und Iwan Gontscharow? Ebenfalls ein Vielfraß und Müßiggänger, wie manch Zeitgenosse vermutete? Ganz sicher nicht, auch wenn sich der eingefleischte Junggeselle mit seinem stetig wachsenden Bauch gelegentlich gern als Oblomow ironisierte und den Genüssen des Lebens nicht abgeneigt war. Ganz besonders hatten es ihm Havanna-Zigarren angetan, mit denen er sich während seiner Reisen in großer Zahl versorgte. Aber: kann man sich einen Oblomow als Flaneur in Berlin, Paris und London oder gar als Weltreisenden vorstellen? Dieser schaffte es ja nicht einmal, seine Petersburger Wohnung zu verlassen. Der mit Arbeit überhäufte Beamte Gontscharow dagegen, der jahrzehntelang zum Dienst geht, weil er im Gegensatz zum Helden seines Romans kein geerbtes Gut in Reserve hat, findet sich eines Tages als Sekretär eines Admirals an Bord der Fregatte „Pallas“ wieder, die in geheimer Wirtschaftsmission in See sticht. Ziel der zweieinhalb Jahre währenden Weltreise im Auftrag des Zaren ist das abgeschottete Japan, zu dem Russland Handelsbeziehungen aufnehmen möchte. Wir verdanken dieser Reise Briefe voller amüsanter Eindrücke, Reflexionen und auch appetitanregender Schilderungen diverser exotischer Köstlichkeiten. Und auch manch wunderlichen Dialog: „Was gibt es heute zum Essen? frage ich … Erbsensuppe … Und was noch? … Huhn mit Reis. - Schon wieder, rufe ich erbittert. - Was soll ich tun … Ich habe nur noch fünf Hammel, drei Schweine, fünfzehn Enten und ganze dreißig Hühner von einhundertdreißig“, lebende wohlgemerkt - an Bord des Segelschiffs! Noch dazu ist das Federvieh „vom Pulverdampf blind und vom Schaukeln alt geworden“, wie Gontscharow notiert.

Im Überfluss aber gibt es tropische Früchte. „Die üppigste ist ohne Zweifel die Mango-Frucht, sie besitzt den Geschmack von Sahne-Eis, vermengt mit einer leichten Säure und einem Tropfen einer narkotischen Essenz gewürzt.“ Welcher Gourmet unserer Tage hätte das besser formulieren können! Und natürlich Kokosnüsse – der Schiffskoch ist begeistert und presst die Kokosmilch aus dem Fruchtfleisch heraus, „das ergab eine vorzügliche, aromatische Speise; sie schmeckte nach Mandeln und hatte die Konsistenz von Sahne … Wir kamen außerdem auf den Gedanken, diesen Kokosrahm mit Bananen zu essen.“ Was Wunder, dass Gontscharow eines Tages konstatiert: „Wenn Sie wüssten, wie dick ich geworden bin, kaum zu glauben… mir wächst über dem früheren ein zweiter Bauch. Das wäre an sich nicht erheblich, … was jedoch ärgerlich ist, das ist der Umstand, dass jeder meiner Gefährten, wenn er mir morgens begegnet, unbedingt mit dem Finger auf diesen meinen zweiten Bauch tippt, als ob er nicht recht überzeugt sei, ob es in der Tat der Bauch ist oder eine Leibbinde.“

In Japan angekommen, werden die Emissäre schließlich mit nie für möglich gehaltenen Speisen konfrontiert. Zuerst müht sich Gontscharow noch, den Inhalt all der in rätselhaftem Zeremoniell servierten Schalen zu erforschen, doch „von der dritten Schüssel ab hörte ich auf zu probieren und aß das übrige ohne jede Analyse auf“.  „Irgendwelche Mollusken“ sind darunter, „etwas Schwarzes, Knuspriges und Schlüpfriges … dann knirschte etwas Salziges, Feuchtes zwischen den Zähnen.“ So verwundert es kaum, wenn er von einem Zwischenstopp auf einer tropischen Insel berichtet: „Plötzlich sahen wir zwischen Ananas, Kaffeesträuchern, Bananenstauden und Oleander – was? Unseren grünen Lauch. Obwohl uns nach dem Essen ein Dessert von tropischen Früchten erwartete, stibitzten wir uns beide heimlich ein Zwiebelchen und verzehrten es.“ Vielleicht würde es Iwan Gontscharow freuen, wenn wir am 18. Juni, anlässlich seines Geburtstages, ganz gegen die Etikette eine Lauchzwiebel auf den Tisch legen würden …

Neu übersetzt
Anlässlich des 200. Geburtstags von I. Gontscharow am 18. Juni 2012 erschien eine von Vera Bischitzky initiierte Neuübersetzung des Oblomow - Iwan Gontscharow, Oblomow. Herausgegeben und aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky. Carl Hanser Verlag, München 2012.
Bei Amazon zu erwerben .

 

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