Norbert Elias
Es ist an der Zeit, einen Mann zu ehren, der nicht nur gastrosophisch zu schnell in Vergessenheit geraten ist. Gleichwohl würde es ihn sicherlich freuen, dass er zu posthumen gastrosophischen Ehren und somit in die Gesellschaft guter alter Bekannter kommt.
Der 1897 in Breslau geborene Norbert Elias war – was selbst Vertreter seiner Disziplin mittlerweile gerne vergessen – ein namhafter und einflussreicher Soziologe. Es war immerhin Elias, der als erster Soziologe den Theodor W. Adorno Preis im Jahre 1977 zugesprochen bekam. Aber lassen wir die offiziellen Nebensächlichkeiten bei Seite, und schauen wir hinter die gesellschaftshistorischen Kulissen, deren Ausdifferenzierung Elias so eigenständig wie eigensinnig betrieb.
In seinem grundlegenden Werk über den „Prozess der Zivilisation“, welches er 1939 in englischer Emigration beendet, beschreibt Elias einen Skandal, der sich im Venedig des 11. Jahrhunderts ereignet und eine tiefreichende Erschütterung des höfischen Verhaltens nach sich zieht. Ein venezianischer Doge heiratete damals eine griechische Prinzessin. Dies war nicht der Skandal, sondern ein kleiner Unterschied im Verhalten der griechischen Adligen bei Tisch. In Byzanz schien es offensichtlich zum guten Ton zu gehören, bei Tisch eine Gabel zu benutzen, um sich die Hände beim Essen nicht zu beschmutzen. Allein dadurch, dass die Prinzessin diesen Gegenstand an der Hochzeitstafel verwendet, beschwört sie den Skandal herauf. Ganz Venedig war außer sich: Wie konnte ein Mensch es wagen, Gottes eigene Speisen mit etwas anderem, als den von Gott dafür vorgesehenen Händen zum Munde zu führen? Welch ein Frevel!
Der Skandal als gastrosophische Initialzündung
Es sollte noch bis zum Ende des Mittelalters dauern, bis sich die Verwendung der Gabel zu einem kulturellen Bedürfnis entwickelt, das auch den gesellschaftlichen Status kennzeichnet. Zunächst findet die Gabel in den höfischen Oberschichten Verwendung und wird selbst noch im 17. Jahrhundert als Luxusartikel angesehen. Doch schon bald wird die Gabel, wie das Messer, ein alltäglicher Gegenstand bei Tisch. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, gemeinschaftlich wie im Mittelalter zu essen: mit den Händen gemeinsam aus einer Schüssel und mit den Löffeln zusammen aus einem Topf. Ein solches Essverhalten würde als peinlich empfunden, aber auch als sozial deklassierend. Der Frevel liegt heute im nicht Benutzen von Messer und Gabel.
So wandelt sich eine Gotteslästerung über die Jahrhunderte in eine feine Tugend. Der zuvor als affektiert belächelte Gebrauch des Tischwerkzeugs wird zur alltäglichen Notwendigkeit und sozialen Praxis. Damit wird die Gabel in Elias Analyse des Zivilisationsprozesses zu einem Symbol des gesellschaftshistorischen Wandels der zwischenmenschlichen Kultur: ausgehend vom Mittelalter werden die zwischenmenschlichen Interaktionen arbeitsteiliger. Man zergliedert Arbeitsprozesse, Spezialisten werden ausgebildet. Für die Küche bedeutet dies, dass sie zunehmend aus dem gemeinsamen Raum verschwindet und hinter die Kulissen ausgelagert wird. Im Zuge dieser Entwicklung verändert sich ebenso die Darreichungsform der Speisen vom ganzen Tier zu zergliederten Portionen, welche leichter mit der Gabel aufgenommen und zum Mund geführt werden können. Diese Kleinteiligkeit fördert auch eine Differenzierung des Schmeckens wie des Kochens und nährt so das gastrosophische Verständnis des Essens. Neue Namen, neue Gerichte, neue Techniken werden in der Küche geschaffen.
Zugleich achtet man stärker auf das eigene Verhalten bei Tisch. Der Blick der anderen wird verinnerlicht und man ist bestrebt, sich und seinen Essplatz unter Verwendung der Gabel sauber zu halten. So gesehen ist die Ausbildung des Über-Ichs mit Zinken gezeichnet.
Dialektisch betrachtet verdanken wir Norbert Elias den Nachweis, dass auch der Frevel gesellschaftlich produktiv ist. Ohne den Skandal der Gabel wäre die Tischsitte auf der Strecke geblieben. Eine berechtigte gastrosophische Hoffnung wäre demnach, den Frevel heutiger Esskultur aufzuspießen und die Differenzierung des Schmeckens zum allgemeinen Gut zu machen. Eine soziologische ist es leider nicht.