Michel Serres
Man sollte sich öfter fragen, was Leute, die über Essen professionell schreiben, eigentlich machen, wenn sie ihrem Beruf nicht schreibend sondern eben essend nachgehen. Sitzen sie da, löffeln, dippen, schneiden, trinken, kauen und überlegen sich im selben Moment, wie sie die Textur beschreiben können: den Aromen-Akkord, die feine Milde, die Überlagerung, den sanften Abgang?
Ihnen allen sei empfohlen, den eloquentesten aller Gastrosophen zu Rate ziehen: Michel Serres, den alten weisen Mann, seit Jahren Mitglied der Académie Française. Sein Buch über die Fünf Sinne sollen sie aufschlagen und nachlesen, was er über die Zunge zu sagen hat.
„Einmal fanden wir bei einem Händler eine Flasche Yquem, Jahrgang 1947. Wir waren drei, die wir uns niederließen, die beiden Freunde hatten die Gabe der Zunge, das heißt, sie wussten zu schweigen. Der noch feste Korken ging bereits ein wenig ins Flüssige über, sein Braun ins Blonde, alles näherte sich einem Phasenwechsel. Wir haben uns so viel Zeit genommen, diesen Wein zu trinken, dass wir noch heute davon reden.“
Serres geht es in solchen Passagen eben nicht darum, dass man schweigen soll, da man vom Geschmack nicht reden kann. Im Gegenteil, er liefert den schönsten Beweis dafür, dass man wunderbar einfallsreich, nuanciert und gerade daher äußerst präzise über den Geschmack zu sprechen vermag. Serres führt vor, dass der Geschmack schließlich einer der fünf Sinne ist, die uns betören, wenn sie selbst betört werden. Er ästhesiert das Empfinden und löst später die Zunge, die in Worte fassen möchte, was sie zuvor an Geschmacksexplosionen erlebte.
Homo sapiens in der Küche
Eins der schönsten Dinge, die das Leben uns bereithält, ist es, die Zunge anzuregen. Sie mit Aromen in einem Maße zu beglücken, das niemals eine Überreizung darstellt, sondern eben so viel ist, um Interesse und ruhiges Wohlbefinden hervorzubringen. Serres ist ein Meister darin, die Kunst der Küche auf den Punkt zu bringen, den viele jener Menschen, die über Essen reden, als ginge es darum, es stets in fünf gleiche Worte zu zerlegen, völlig vergessen, negieren oder nie zur Kenntnis genommen haben.
Die Küche ist seit Alters her eine Kunst der Synthese, es geht um Gemische und Gebräue, das Zusammenführen verschiedener Zutaten in Töpfen und Tiegeln. Eine Kunst, die ein Produkt durch Wärme, Kälte, Zerschneiden und Vermischen verändert, die sich auf „Phasenwechsel“ versteht. Das, was wir dann probieren, löst in einem gelungenen Falle nicht den Wunsch in uns aus, lediglich die Textur auf der Zunge zu beschreiben. Nein, es macht etwas mit uns, es nimmt uns mit auf eine Reise, die uns verändert, auf gänzlich andere Gedanken als die des Alltags bringt und den Körper in einen angenehmen Zustand versetzt. Es ist dieser Zustand, den ein Menu, verstanden weniger als Nahrungsaufnahme, sondern als ein Höhepunkt der kulinarischen Kultur, in uns auszulösen vermag – wenn wir verstehen, uns darauf einzulassen.
Seien sie nicht allein, wenn sie sich dafür Zeit nehmen. Der Geschmack schläft in der Narkose der Worte. Er will gereizt, angestachelt, beseelt werden, damit er sich entfalten kann. Reden sie nicht zu viel, aber achten sie darauf, wie sehr der Geschmack sie zum Reden animiert. Doch das Reden alleine ist noch keine Weisheit, die entsteht erst durch ihren unbewussten Schatten, den Geschmack. Denn der Mensch ist, wie die Bezeichnung homo sapiens beschreibt, nicht einfach ein Wesen der Weisheit. Die Weisheit selbst kommt erst durch ihren sinnlichen Doppelgänger zu uns: Sapor bezeichnet zugleich den Geschmack.