Marie Antoine Carême
Im Zuge der Aufklärung findet der Mensch nicht nur den philosophischen Ausgang aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie der Königsberger Immanuel Kant formuliert. Um die gastrosophische Mündigkeit macht sich dagegen Marie Antoine Carême (1784 - 1833) verdient.
Alexandre Dumas, dem Älteren, uns vor allem durch seinen „Grafen von Monte Christo“ und die „Drei Musketiere“ bekannt, beschreibt in seinem „Dictionnaire de cuisine“ die Geburt einer Legende. In diesem Wörterbuch der Kochkünste, erst ein Jahr nach Dumas Tod veröffentlicht, berichtet Dumas von den biographischen Umständen, die aus einem armen Handwerkssohn den größten Konditor und Koch seiner Zeit werden.
Marie Antoine Carême, als 16. Kind eines Steinmetzes in einem Pariser Elendsviertel geboren, wird im Alter von elf Jahren von seinem Vater an den Stadtrand geführt. Dort essen die beiden zu Abend, bevor der Vater auf der Strasse zu seinem Sohn spricht und ihn ins Leben hinaus schickt.
„Geh mein Kleiner, in dieser Welt gibt es viele gute Handwerke. Lass den Rest unserer Familie im Elend verkommen, in dem das Schicksal uns sterben lassen will. In dieser Zeit wird das Glück nur noch von denen gewonnen, die genügend Verstand haben, den du mein Sohn, hast. Heute Nacht oder morgen wirst du gewiss ein gutes Haus finden, das seine Türen für dich öffnet. Geh mit dem, was Gott dir gab und was ich dir mitgeben konnte.“
An diesem Tag, als Vater und Sohn Abschied nehmen, ahnen beide nicht, dass der Elfjährige schon bald die klassische französische Küche wesentlich prägen wird. Er wird sie nicht nur über die Grenzen Frankreichs berühmt machen, sondern auch maßgeblich stilbildend tätig sein.
Ordnung, die revolutioniert
Nach der Französischen Revolution von 1789 ist es Carême, der „Ordnung und Geschmack“ als Maßgabe seiner persönlichen kulinarischen Handschrift ansieht. Dabei sind seine Kreationen zugleich ästhetische Meisterwerke, man sieht ihnen die Arbeit an, bevor der Geschmack der zubereiteten Kunstwerke auf der Zunge zergeht.
Nach der von Dumas überlieferten Trennung von seinem Vater wird Carême zunächst Hilfskraft in einer Küche, bevor er eine Ausbildung zum Konditor und Koch absolviert. Mit 15 Jahren erhält er die Gelegenheit, für den berühmten Pariser Patissier Bailly zu arbeiten. Dort wird der französische Außenminister Talleyrand – ein Mann der Zunge, also auch des Geschmacks – auf das junge Talent aufmerksam und fördert Carême nach Kräften.
Bis 1814 wird Carême der persönliche Chefkonditor des französischen Außenministers sein und zugleich seine eigene Konditorei führen. In der Zwischenzeit ist er es, der das Bankett für die Hochzeit von Napoleon mit Marie-Louise von Österreich ausrichtet. Doch die Niederlage von Napoleon ist für Carême kein Waterloo. Die Besetzung von Paris und die anwesenden Diplomaten und Adligen aus allen Ländern verschaffen ihm neue Kontakte. So bekommt er die Chance, für den russischen Zaren Alexander I., den österreichischen Kaiser Franz I. und den englischen König Georg IV. zu kochen und so das Ansehen der französischen Küche an den europäischen Adelshöfen zu revolutionieren.
Dabei besteht sein Credo vor allem in akkurater Planung und formvollendeter Darreichung. Er verabschiedet die bis dahin vorherrschende Vorstellung, dass alle Speisen wild durcheinander und gleichzeitig präsentiert werden müssen. Auf ihn geht die Idee zurück, einem Geschmack durch die Nuancierungen anderer Geschmäcker Profil zu verleihen. Dabei ist eines seiner grundlegenden Verdienste ganz im enzyklopädischen Geiste: er zeichnet nicht nur zahlreiche seiner Kochkreationen auf sondern entwirft auch Listen der Gerichte nach den passenden Zutaten der Jahreszeit und wird damit ein gedanklicher Vorreiter der saisonalen und regionalen Küche.