Marcel Proust
Wer, wenn nicht der Mann, der mit einem Bissen in das zarte Madeleine-Gebäck, den daraus erwachsenden Erinnerungen an die Kindheit und die darauf folgende Suche nach der verlorenen Zeit den Roman des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat, sollte als gastrosophischer Kopf bezeichnet werden?
Natürlich belässt es der 1871 in Auteuil – damals ein Dorf, heute Teil des 16. Arrondissements von Paris – geborene Marcel Proust nicht beim Dippen des Gebäcks in den Tee. Obgleich er der neumodischen Erfindung des Sandwiches misstraut und alternativ lieber in die mitteilsamen Schokoladenkuchen oder die wissenden Aprikosentörtchen beißt, um seine Erinnerung an vergangene Genüsse aufziehen zu lassen, verschmäht er auch herzhafte Speisen nicht.
Nicht umsonst preist Proust die „cuisine bourgeoise“, also die ambitionierte französische Küche, die gerade für Gäste mit allen Facetten ihrer Tradition aufwartet in den höchsten Tönen. Seiner Meinung nach stehen deren kulinarische Ergebnisse der haute cuisine nicht unbedingt nach. Gerade das lockere gemeinsame Dinieren im Hause der Gastgeber vermittelt ein Gefühl der Vertrautheit, welches sich nicht ohne weiteres in einem Restaurant einstellt.
Von Empfindungen zu Erinnerungen
Das ganze Romanwerk ist durchzogen von Reflexionen über das Essen. Manches Mal fühlt man sich an ein gemaltes Stillleben erinnert, wie bei der Beschreibung von Spargelstangen: “Sie schienen in Ultramarin und Rosa getaucht, und ihre mit feinen Pinselstrichen in zartem Violett und Himmelblau gemalten Ähren wurden zum Fuß hin – der allerdings noch Spuren trug vom Boden ihres Feldes – immer blässer, in unmerklichen, irisierenden Abstufungen, an denen nichts Irdisches haftete“.
Aber für gewöhnlich dienen ihm Geschmack wie Geruch dazu, eine wahre Seelenlandschaft auferstehen zu lassen. So lädt der Geschmack des Kaffees am Morgen gleichzeitig dazu ein, über die Besonderheiten der Tageszeit nachzudenken.
„Der Geschmack des Morgenkaffees führt uns jene unbestimmte Hoffnung auf schönes Wetter herauf, die früher so oft, während wir jenen aus einer großen Frühstückstasse aus weißem Porzellan tranken, das, rahmfarben und geriffelt, selbst wie fest gewordene Milch aussah, und der Tag in seiner Fülle noch ganz unberührt vor uns lag, uns in der lichten Ungewissheit des ersten Morgens zulächelte. Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Verbindung zwischen diesen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.“
Es sind gerade die Sinneswahrnehmungen des Gaumens und der Nase, welche die Erinnerungen in uns wach halten und sie in andere Zeiten transportieren. Ganz so, als wollten sie uns in der nach vorne gerichteten Moderne beständig an die Vergangenheit binden:
„Aber wenn von einer lang zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr übrig ist, nach dem Tode der lebendigen Wesen, nach der Zerstörung der Dinge, verweilen ganz alleine, viel fragiler, aber lebenskräftiger, immaterieller, ausdauernder, treuer, der Geruch und der Geschmack noch lange Zeit, wie Seelen, entsinnen sich, warten, hoffen, auf den Ruinen von allem übrigen, und tragen, ohne zu wanken, auf ihren kaum wahrnehmbaren Papillen den ungeheuren Bau der Erinnerung.“
Marcel Proust rettet die verlorene, gelebte Zeit, indem er sie durch sinnliche Wahrnehmung und Genuss samt den daraus erwachsenden Erinnerungen wiederbelebt. Das ist Gastrosophie.