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Franz Kafka 1923 - Quelle: Anonym, Wikipedia

Kafka kulinarisch

Hamsterkäufe und andere Attacken von Panik sind untrügliche Anzeichen einer Krise. Mit verantwortlich dafür ist kulturell vererbte Wissen um Krisenverläufe, als auch um die Gefahr besonders virulenten grippaler Ausprägungen. Vor rund 100 Jahren, zwischen 1918 und 1920 verbreitete sich mit der „Spanischen Grippe“ ein Influenzavirus, der mit einer Sterblichkeitsrate von 1,5-3% besonders hoch lag. Schätzungen gehen davon aus, dass dieser Pandemie zwischen 25-50 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Im Oktober 2019 wurde in Deutschland das erste Denkmal für die Opfer dieser Pandemie eingeweiht, wenige Wochen später ebnete das Corona Virus den Weg zu einer neuen Pandemie. Nach derzeitigen Erkenntnissen bietet soziale Isolation den besten Schutz vor einer Ansteckung. Zeit also zur Lektüre.

Lektüre in Zeiten von Corona

Das Bild des dürren, hochaufgeschossenen Jungen mit den großen Ohren wird, wie seine Erzählungen und Romanfragmente, ins kollektive Gedächtnis eingehen. Seine Figuren, die uns wie Gregor Samsa unter die Haut gehen, sind bezeichnend für seinen Stil, den wir nach ihm bezeichnen: kafkaesk.

Wir müssen uns Franz Kafka als einen modernen Menschen vorstellen. Und das bedeutet, wie sein Biograph Reiner Stach schreibt: „Man muss sich Kafka wohl eingehüllt in eine Wolke aus Asbest vorstellen.“ Denn durch Kafkas Körper wandert der Geist seiner Zeit mit mannigfaltigen Auswüchsen. So war Dr. Franz Kafka seit dem 8. November 1911 für die Zeit ihres Bestehens Mitinhaber der 1. Prager Asbestfabrik – zunächst gegen den erklärten Willen seines Vaters, der allerdings die Finanzierung nicht ohne Hintergedanken übernehmen wird – und dies verblüffender Weise auf eigenen Wunsch. Neben dem Broterwerb für die Versicherungsanstalt sollte hier der Grundstein gelegt werden, um aus dem Sohn einen erfolgreichen Geschäftsmann werden zu lassen. Doch der Sohn entscheidet sich zu entsagen. Er will vielmehr sein Leben der Literatur, besonders aber – wie fast jeder humanistisch gebildete junge Mann im Prag dieser Zeit – dem Schreiben und der Schriftstellerei widmen. Schnell sympathisiert Kafka mit den Arbeiterinnen der Fabrik und weigert sich, die vom Vater zugewiesene Stelle des Unternehmers einzunehmen. 

Nicht seine Literatur, die ihm posthum zu Weltruhm verhalf, legt davon Zeugnis ab, sondern vor allem seine Vorliebe für manche Mode seiner Zeit. Denn Prag im Fin de Siècle ist nicht nur Ausdruck eines bunten Gemisches der Völker, sondern zugleich ein Ort, in dem die Moderne ein vielschichtiges Experimentierfeld vorfindet, denn die divergierenden Kräfteverhältnisse sind extrem. Von den Metropolen Berlin und Wien als provinziell verschrien, toben in Prag um die Jahrhundertwende heftige nationalistische Kämpfe um die Vorherrschaft der Sprache. Soll die Mehrheit der Tschechen – um 1860 verlor die deutsche Bevölkerung in Prag durch starken Zuzug der Tschechen ihr zahlenmäßiges Übergewicht - endlich auch bestimmen dürfen, welche Sprache in den Ämtern und Schulen gesprochen wird? Oder bleibt es bei der Sprachregelung durch die monarchistische Obrigkeit? Der Kampf wird weniger auf der Straße, als in den künstlerischen Zentren der Stadt ausgetragen, die Kultur des Buches erhält hier zu dieser Zeit eine besondere Bedeutung. Wichtig ist nicht nur das geschriebene Wort, sondern die besondere Ausprägung der Stimme des Autors. Wie unter einem Brennglas verdichtet sich hier die sprachliche Kultur: Max Brod, Rainer Maria Rilke, Friedrich Adler, Oskar Baum, Felix Weltsch, Franz Werfel und Franz Kafka sind hier auf sehr dichten geografischen und zeitlichen Raum am Werk.

Bruchlinien

Die Bruchlinien, so scheint es, zeichnen sich auch in Kafkas Familie ab. Geboren als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, der sich seinen Lebensunterhalt lange Zeit als Vertreter auf dem Lande verdienen musste und einer in bürgerlichen Verhältnissen in Prag aufgewachsenen Mutter, erlebt Kafka als Heranwachsender die Überlegungen der Eltern, ob man den jüdischen Glauben zu Gunsten eines klaren nationalen Bekenntnisses ablegen sollte, da man als Jude, gleich welcher Nationalität man angehöre, doch nur als Außenseiter angesehen würde. Kafka selbst wird seinem Vater widerwillig den Gefallen erweisen, zumindest an den hohen Feiertagen „aus Pietät“ wie der Vater es bezeichnete, in die Synagoge zu gehen. Die Verpflichtung gegenüber religiösen Geboten verschwindet hinter der Verpflichtung, das familieneigene Geschäft rund um die Uhr zu betreiben. Alle Aktivitäten der Familie, sowie die Erziehung der vier Kinder haben sich diesem Diktat unterzuordnen. Wie seine drei Schwestern wird Kafka durch die Eltern auf der einen und der Dienstmädchen auf der anderen Seite zweisprachig deutsch-tschechisch aufgezogen. Seine Zweisprachigkeit sicherte ihm später auch den Eintritt in die Versicherungswirtschaft. Die um 1850 noch zahlenmäßig vorhandene deutsche Bevölkerungsmehrheit wandelte sich im Zuge der Veränderungen der industriellen Revolution innerhalb weniger Jahrzehnte in eine Minderheit, da in die entstehenden Prager Vororte hauptsächlich tschechische Arbeiter strömten, trotz immensen Bevölkerungswachstums hielt sich der prozentuale Anteil der jüdischen Bevölkerung in diesem Zeitraum bei knapp 10%. Doch dies sind lediglich die Rahmenbedingungen. Kafka selbst wird den Unterschied, den von sich zu seinem Vater ausmacht, nicht nur literarisch Formen, entscheidend wird seine Verwandlung am Tisch, denn hier machen ihn grundlegende Überlegenheiten zu einem Außenseiter, er erlebt eine bewusste Verwandlung, eine Art Gregor Samsa am heimischen Tisch, der allerdings weiß, dass er geduldet werden muss, soll die bürgerliche Fassade aufrecht erhalten werden, doch greifen wir nicht vor und schauen auf die damaligen modernen Lebensentwürfe, die Ernährung als einen wesentlichen Teil eines gesunden Lebens erkennen. Kommen uns da nicht einige Dinge aktuell vor?

Vegetarismus – Ein Lebensentwurf

Seinerzeit war Heinrich Lahmann, eine Autorität der Naturheilkunde. Er leitete das 1888 gegründete Sanatorium „Weißer Hirsch“ in Dresden. Hier konnte man für Aufenthalt, Beratung und Verpflegung sowie die obligatorischen Anwendungen zwischen 20,- und 25,- Mark ausgeben. Pro Tag. Eine Woche Aufenthalt hätte das Monatsgehalt eines mittleren Beamten oder Facharbeiters verzehrt. Kafka mietete sich in einer der benachbarten Villen ein, auch wenn nicht überliefert ist, wie lange er dort weilte, können es wohl nicht mehr als zwei Wochen – also zwei durchschnittliche Monatsgehälter, durch welche er bezuschusst wurde – gewesen sein. Traf man die Ärzte in der Doktorlaube des Gartens, so war es – entgegen der Gepflogenheiten dieser Zeit – sehr wohl gewünscht, sie anzusprechen. Denn auf diese Weise konnte die Ganzheitlichkeit der Naturheilkunde greifen und die Ärzte bekamen quasi durch die Patienten selbst die Anregung für lange belehrende Vorträge im Sinne der Heilkunde, die sie vertraten. Denn man verstand sich durchweg als Reformer, also als jemand, der eine Mission zu erfüllen hatte. Denn die Symptome zu kurieren reichte bei weitem nicht aus, man wollte den zivilisatorischen Krankheiten, den Gar ausmachen mit Stumpf und Stil. Daher wurde man findig in der Definition dieser Krankheiten und mithin des eigenen Arbeitsfeldes. Der Kampf galt von nun an den „Volkskrankheiten“. Daher sollte man zunächst in Licht und Luft baden. Lichtlufthütten dienten dazu, dass die Patienten windgeschützt möglichst große Flächen ihres Körpers dem Licht und der Luft aussetzten. Kafka selbst war als guter Schwimmer schon an Licht und Wasser gewöhnt. Doch hier beeindruckte ihn das System, welches er verinnerlichen und mit nach Prag nehmen sollte. Frische Luft, also stets geöffnete Fenster, Schlafen auf harter Unterlage oder direkt auf dem Boden, vor allem aber neue Ernährungsweisen, die sich schnell zu Marotten entwickelten und Familie sowie Personal auf Trab hielten. Heinrich Lahmann galt als führend in Fragen der Ernährung und es ist sehr wahrscheinlich, dass Kafka sich durch den Kontakt zu ihm zum Vegetarismus zuwendete. Denn man sollte sich in der Ernährung dauerhaft umstellen und dem Fleisch und den Bratensaucen nicht nur partiell entsagen, so die Meinung des Experten. 

Lahmann ließ ein „Hygieinisches Kochbuch zum Gebrauch für ehemalige Curgäste“ erarbeiten, die das Studium der dazugehörigen diätetischen Theorie voraussetzte: Verzicht auf Fleisch, schonende, mineralstofferhaltende Art der Zubereitung. Die Naturheilreform lockte Kafka nicht als medizinische alternative Theorie, sie faszinierte ihn als neue Form der Gestaltung des eigenen Lebens, als Lebensreform: Licht und Luft anstelle teurer Arzneien. Das Leben wurde hier sinnbildlich als etwas Einfaches genommen und angesehen, für Kafka eine verheißungsvolle neue Welt. Der Umgang mit Essen letztlich als einer der Schlüssel zur eigenen Kunst.

Zugleich war diese Idee radikal individualistisch, denn sie verlangte von jedem Einzelnen die permanente Sorge um sich selbst und verankerte eine tief verwurzelte Autonomie in sich. Das Problem der immer kleinteiliger werdenden Sorge zeigte sich praktisch im „Fletchern“ dem sehr gründlichen Kauen kleinster Happen Nahrung. Eine Praxis, die jeden Esser innerhalb kürzester Zeit von der Tischgemeinschaft der Nicht-Fletcher ausschließt. Ein wahrlich kafkaeskes kulinarisches Programm am heimischen Esstisch, denn hier galt es, alles der Sorge um das Geschäft unterzuordnen, die Nahrungsaufnahme sollte sättigen und schnell vonstatten gehen. Stundenlanges Kauen war hier nicht vorgesehen. Kafka aber begann beides: Fleisch als schnell sättigende Nahrung rundum abzulehnen und die vegetarisch Kost zu flechtchern.

Die Verwandlung

Diese Umschichtungen und der Kampf um die Deutungshoheit bilden einen Hintergrund, der die persönliche Lage Kafkas im familiären Bereich spiegelt und sein literarisches Schaffen prägt. Die Differenz des Einzelnen zur Gesellschaft mit all ihren Unsicherheiten und Abgründen, wie sie mustergültig in der Figur des Gregor Samsa in „Die Verwandlung“ thematisiert wird, kennzeichnet in einer kristallinen, fast wissenschaftlich reduzierten Form der Sprache das Werk von Franz Kafka und bringt in dieser Verwandlung, die vorher schon bestehenden Differenzen als einen Abgrund an Scham und Ekel im familiären Kontext zum Ausdruck.

Schon zu Beginn der Erzählung ist es der Vater, der dem besorgt vor Ort geeilten Prokuristen, der sich nach dem Grund für das Fernbleiben von der Arbeit erkundigen will, mitteilt: „Der Junge hat ja nichts anderes im Kopf als das Geschäft.“ Und es wird die Mutter sein, die sich angesichts der Verwandlung, die ihr Sohn durchlaufen hat, auf den frisch gedeckten Frühstückstisch setzt, woraufhin „aus der umgeworfenen großen Kanne der Kaffee in vollem Strome auf den Teppich sich ergoß.“ Doch dies ist lediglich der Beginn des tödlichen Dramas.

Zu seiner realen Situation gibt Kafka zu Protokoll: „Ich lebe in meiner Familie unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt.“ Was er aber von seinen Eltern ererbte waren die nie endenden Sorgen der Kaufleute, die sich nicht von ihren Geschäften erholten, sollten sie in die Sommerfrische aufbrechen, sondern für ihr Geschäft. Denn auch die Freizeit war besetzt von den Sorgen um die geschäftliche Unabhängigkeit. Kafka kaufte sich von den wirtschaftlichen Zwängen frei, indem er die Sorgen, die im Kern stets um das Geschäft kreisten, verinnerlichte und die Sorgen losgelöst vom Geschäft zu einem generationenübergreifenden gedanklichen Problem wurden. Mithin Stachel und Antrieb seiner Kunst. Man kann sich plastisch vorstellen, warum Kafka sich wie ein Fremder in seiner Familie fühlte, die „Verwandlung“, der er literarisch so kunstvoll wie pittoresk beschreiben wird, kann man sich wie ein normales Gefühl von Kafka am heimischen Esstisch vorstellen. Hier kommt sie unmittelbar zum Ausdruck und nimmt die tiefe Kluft, die das literarische Motiv zwischen Protagonisten und seiner familiären Umwelt zeichnet, kulinarisch vorweg.

Später wird eine andere Konsequenz der Naturheilkunde fatale persönliche Auswirkungen haben: Kafkas ablehnende Haltung gegenüber Arzneien und Impfungen, wird für den jungen Mann zum Todesurteil. 1918 erkrankt er an der Spanischen Grippe. Trotz langer Kuraufenthalte wird er sich nicht mehr gänzlich von dieser Erkrankung erholen und schließlich an den Folgen der daraus entstehenden nicht therapierten Kehlkopftuberkulose 1924 in Klosterneuburg in der Nähe von Wien sterben.

 

Tartuffel empfiehlt:

Rainer Stach: Die Kafka Biografie in drei Bänden. S. Fischer Verlag. Frankfurt/Main, vier Bände im Schuber, 2688 S., 78,00€

 

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