Jürgen Dollase Interview (2)
Zweiter Teil des Interviews mit Jürgen Dollase
Tartuffel: Sie schreiben ja nicht einfache Restaurantkritiken, ihre Sprache und ihre Themenpalette greifen weit darüber hinaus. Was führte dazu, dass Sie über Essen schreiben wollten?
Jürgen Dollase: Ich wollte im Prinzip gar nicht über Essen schreiben. Die Entwicklung bis zu meinem Beginn bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) im Jahre 1999 und auch noch danach hat viel Zufälliges an sich. Es war nie geplant oder auch nur irgendwo am Horizont, jemals über Essen zu schreiben. Der Ausgangspunkt war ein Leserbrief, den ich an Johannes Groß, der damals im FAZ-Magazin schrieb, geschickt habe. Ich habe mich darin sehr ausführlich über ein von ihm verfasstes Vorwort aufgeregt. Das fand er anscheinend so beeindruckend, dass er mir empfahl, doch über Essen zu schreiben. Wenig später kam die Einladung des Feuilleton-Chefs der FAZ, Patrick Bahners, und seines Stellvertreters Andreas Platthaus, doch ab und zu einmal etwas für die damals neue „Stil“-Seite im Feuilleton der FAZ beizutragen. Das fand ich sehr interessant – und zwar aus einem ganz praktischen Grund: Ich dachte, dass ich als FAZ-Autor dann vielleicht über neue Kontakte noch besser an Informationen über das Kochen kommen könnte. Ich war zu diesem Zeitpunkt nämlich schon ein ziemlich gut trainierter Privatkoch, der die Kochkunst studierte, wie man ansonsten Wissenschaft betreibt.
Tartuffel: Stichwort „Kulinarische Intelligenz“: Denken wir Kulinaristik kulturell, dann sollten wir dringend Schulfächer zur Förderung des Verständnisses von Speisen und Produkten einführen. In welcher Weise sollte man Kinder in dieser Hinsicht schulisch unterrichten?
Jürgen Dollase: Da gibt es verschiedene Stränge. Man sollte zum Beispiel im kulinarischen Unterricht sehr viel anspruchsvoller werden und die eigene Entscheidung und die Eigenverantwortung stärken. Dann geht es natürlich um die zentralen Punkte der Differenzierung und Sensibilisierung. Praktisch müsste das – soweit sind wir schon gesunken – vielleicht erst einmal dazu führen, dass Kinder und Jugendliche viele Produkte kennenlernen, die sie in ihrem Leben noch nie probiert haben – frischen Fisch etwa. Ich glaube, dass Jugendliche schon sehr gute Köche sein können. Wer neun Jahre am Gymnasium Kochen gelernt hat, sollte im Prinzip in die Nähe dessen kommen, was wir heute noch als Profi bezeichnen. Einen ausschließlich ökotrophologischen, gesundheitspolitisch motivierten oder ähnlich instrumentalisierten Zugang zu Geschmack und Kochen halte ich für kontraproduktiv. Es geht nur über Information, Sensibilisierung und vor allem Faszination für die Perspektiven des Menschen im kulinarischen Bereich und damit um das Erreichen von mehr Genuss und mehr Lebensqualität.
Tartuffel: Erinnern sie sich noch an Ihren ersten Besuch eines Sterne-Restaurants?
Jürgen Dollase: Nicht so ganz. Ich war als bekannter Musiker auch schon zu Beginn der 1970er Jahre mit den Vertretern von Plattenfirmen und Konzertveranstaltern in sehr guten Restaurants, weiß aber nicht, ob sie Sterne hatten. Aber – damals hat mich das nur in Panik versetzt, weil ich das Gegenteil eines Gourmets war und nur Schnitzel, Fast Food und andere einfache Sachen gegessen habe. Ich musste dann immer hoffen, dass so etwas wie Kalbsgeschnetzeltes auf der Karte war ...
Das erste Sterne-Restaurant in bewusster Wahrnehmung war sehr wahrscheinlich eines im Elsass. Ich fand das Essen gut, aber uninteressant, weil ich damals schon eine Jakobsmuschel in der Schale mit ein wenig Gemüsestreifen für nicht besonders anregend hielt. Wir haben damals solche Restaurants vor allem besucht, damit ich lernen konnte. Und das ging eben am besten in hervorragenden und noch besser in kreativen Häusern.
Tartuffel: Welcher Restaurantbesuch hat sich am nachhaltigsten auf Sie ausgewirkt?
Kulinarische Kodierungsdichte
Jürgen Dollase: Ich kann es wohl nicht auf einen einzelnen Besuch fixieren. Die oben schon einmal beschriebenen Auswirkungen sind dann am größten, wenn der Innovationsgrad besonders hoch ist oder wenn die schiere Qualität der Küchenarbeit mich besonders beeindruckt. Es geht also um Ferran Adrià oder René Redzepi, um Sergio Herman oder Philippe Rochat, um frühe Besuche bei Alain Ducasse und Joël Robuchon, um Heinz Reitbauer jr. vom „Steirereck“ in Wien, oder um Massimo Bottura und natürlich eine Reihe unserer deutschen Spitzenköche. Eine besondere Herausforderung waren immer die Essen bei Pierre Gagnaire, weil er oft eine solch hohe „Kodierungsdichte“ in seinen Kreationen hat, dass ich mich mächtig anstrengen muss.
Tartuffel: Wie und wodurch hat sich Ihr Geschmack in den letzten zehn Jahren verändert?
Jürgen Dollase: Er hat sich eindeutig differenzierter entwickelt. Zu Beginn meiner Arbeit habe ich öfter einmal Vermutungen geäußert oder Felder aufgerissen, von denen ich noch kaum Details wusste. Ich habe zum Beispiel sehr früh einmal einen Text darüber geschrieben, dass die Köche mehr nach den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen kochen müssten. Dann habe ich begonnen, meine Wahrnehmungen genauer zu betrachten, zu beschreiben und sie mit der Kochkunst zu synchronisieren. Im Verlauf dieses Prozesse, der ja zum Beispiel zur „Geschmacksschule“ von 2005 geführt hat, hat sich meine Wahrnehmung enorm entwickelt. Ich nehme die Geschmacksbilder so wahr, wie ich sie oft beschreibe – also zum Beispiel mit zeitlichen Abläufen und präzise definierten Räumlichkeiten. Falls die Frage auch etwas „Geschmäcklerisches“ impliziert: Kochstile spielen in diesem Prozess nur noch eine sekundäre Rolle. Mich interessiert jeder Stil und es gibt in erster Linie deshalb einen gewissen Schwerpunkt bei der Avantgarde, weil dort einfach am meisten Neuigkeiten zu beobachten sind.
Tartuffel: Stichwort „Neue Deutsche Schule“: Wie sinnvoll finden Sie es in Mustern von Schulen zu sprechen. Gibt es einen geschmacklichen oder technischen Zusammenhang? Gibt es eine nachvollziehbare Lehrmeinung?
Neue Deutsche Schule
Jürgen Dollase: Von mir stammen ja eine Reihe von Begriffen, also auch zum Beispiel der von der „Neuen Deutsche Schule“ (von 2007) der Begriff der „Strukturalistischen Küche“ und aktuell der von der „Nova Regio“ – Küche. Ich finde solche Begriffe immer sehr nützlich, und zwar aus zwei Gründen. Einmal können sie bei der Kommunikation nach innen und außen ausgesprochen praktisch sein, vor allem wenn man – zweitens – mit den Begriffen auch konkrete Inhalte verbindet. Und das mache ich grundsätzlich. Die „Zehn Merkmale der Neuen Deutschen Schule“ sind eine sehr differenzierte Darstellung von Ansatz und Details, die im Übrigen natürlich idealtypisch ist – wie man das in der Wissenschaft nennen würde. Sind die Begriffe und Zusammenhänge gut erläutert, kann sich der ein oder andere Koch darin vielleicht besonders gut wiederfinden und vielleicht auch sein Profil noch etwas schärfen. Die Rezeption hat gezeigt, dass das auch genau so funktioniert.
Tartuffel: Natürlich sind ihre Arbeiten geprägt von ihrer Feldforschung, also von der Arbeit des Restaurantkritikers. Ich erinnere mich noch an einen Artikel von Ihnen der mit der Überschrift „Die Deklination des Löwenzahns“ begann. Damit war schon eine Menge über das Menü ausgedrückt, was Sie dann im Text ausführlich analysieren. Dies ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie sinnbildlich Sie auch äußerst komplexe Menüs vorstellen und wie offen Sie kulinarischen Experimenten und Neuerungen gegenüber sind. Doch woher nehmen Sie ihre Anregungen für ihre kulinarische Sprache. Wer sind Ihre Vorbilder?
Jürgen Dollase: Ich habe eigentlich keine Vorbilder – einmal davon abgesehen, dass mich die ersten Versuche von Ferran Adrià, bestimmte Erscheinungen tabellarisch zu erfassen, schon ziemlich fasziniert haben. Ich habe ja in vielen Bereichen Neuland betreten und musste mir dabei auch ab und zu die Begriffe selber suchen. Dazu eine kleine Anekdote. Vor Jahren schrieb mir einmal ein Germanistik-Professor und regte sich darüber auf, wie ich mit der Sprache jongliere und dass ich – neben „neuen“ Wörtern – auch bereits „festliegende“ für den kulinarischen Bereich umdeute. Ich habe ihm die Probleme mit den mangelnden Begriffen dargestellt und ihn aufgefordert, doch für das ein oder andere Phänomen bessere Begriffe vorzuschlagen. Ich wäre da völlig flexibel und würde meine Begriffe – ganz nach wissenschaftstheoretischem Verständnis – wie Thesen sehen. Solange keine besseren vorhanden sind, benutze ich die, die ich gefunden habe. Es kam nie eine Antwort.
Noch ein Wort zur Bildhaftigkeit. Ja, ich halte es für äußerst erstrebenswert, auch ein wenig mit Bildern zu spielen. Zum Beispiel beim „Zustand der reinen Degustation“.
Tartuffel: Sie haben mit der „Chefsache“ kulinarisches Neuland betreten und nach nur wenigen Jahren eine erfreuliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Wird es nicht Zeit, dass man die „Chefsache“ einem breiteren Publikum präsentiert?
Jürgen Dollase: Zunächst eine Korrektur. Die „Chefsache“ ist das Werk von Thomas Ruhl und Carola Gerfer-Ruhl, die nicht nur die Organisation machen, sondern auch die Risiken tragen. Als man mir von der Idee erzählte, fand ich das dann so interessant, dass ich mich zur Mitarbeit bereit erklärt habe. Ich fand die Idee, auch in Deutschland einen Kongress nach dem Muster der spanischen Großkongresse zu machen, immer schon gut. Ansonsten gilt für Ihre Frage: Ihr Wort in Gottes Ohr! Ja, ich könnte mir eine große Show vorstellen, die enorme Einblicke verschafft und gleichzeitig prächtiges Infotainment ist. Mit den aufgedrehten, aber heillos banalen Live-Shows unserer TV-Köche sollte das allerdings keinerlei Ähnlichkeit haben ....
Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews mit Jürgen Dollase.