Herrlichkeit des Lebens
In Michael Kumpfmüllers „Die Herrlichkeit des Lebens“ entdeckt Franz Kafka seine große Liebe
Atmen sie einmal leise, ganz leise. Flach. Flacher. Noch flacher. Merken Sie es? Ihr Atem wird schneller. Manchmal ist er so schwach, dass sie ihn kaum spüren und unwillkürlich atmen sie schneller. Die Lungen füllen sich nicht ausreichend mit Luft und schon entsteht eine leichte Panik. Keine, die ihnen den Blick trüb werden lässt, aber immerhin. Sie merken allmählich, dass es ihr Leben ist, das da nicht mehr genügend Luft bekommt. Mit jedem Atemzug spürt ihr Körper das. Und ihr Gehirn? Es wird versuchen, diesen Zustand – sollte er chronisch werden – zu vertuschen.
In diesem Zustand chronischer Kurzatmigkeit wirkt Essen nicht wie eine Erfüllung. Essen wird zu einer lästigen Pflicht. Es raubt einem den teuer, da schmerzhaft inhalierten Atem. So verwandelt sich das Essen in das Gegenteil von dem, was es gleichwohl weiterhin darstellt: die Anregung zum Leben. Und eine Versuchung der Liebe, denn man schmeckt die Liebe aus einem Essen heraus, wenn es mit Sorgfalt zubereitet wurde. Es schenkt dem Bekochten neues Lebensgefühl, neue Kraft und Energie. Auch der Kranke wird sich überwinden, um die Liebe gegen die Atemnot in sich aufzunehmen, selbst wenn es sich wie ein Sturz in die Atemlosigkeit anfühlt. Exakt diese Figur und diesen Konflikt entwirft Michael Kumpfmüller in seinem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“, in dem er Kafkas letzte Lebensmonate nachzeichnet.
Literarischer Geist – körperlich gedacht
Insofern verwundert es nicht, wenn sich Franz Kafka, die literarische Ikone des 20. Jahrhunderts, nach Jahren des körperlichen Leidens, der Kurzatmigkeit und des damit einhergehenden allmählichen körperlichen Verschwindens 1923 im Alter von 40 Jahren in eine Köchin verliebt. Dora Diamant ist 25 Jahre alt als der Blick des zurückhaltenden Mannes auf ihre Finger fällt, die gerade vor Blut triefen. Und schon in diesem ersten gemeinsamen Bild verweben sich Liebe, Leben und Tod auf unentrinnbare Weise miteinander.
„So zarte Hände, sagt er, so blutige Arbeit müssen sie verrichten. Dabei sieht er sie voller Neugier an, staunend, dass sie da tut, was sie als Köchin eben tut.“ In dem Moment ihres ersten Zusammentreffens mit dem Herrn Doktor, sitzt Dora am Küchentisch und nimmt gerade die Fische für das Abendessen aus.
Hier also, an der Ostsee begegnen sich die beiden. Sie, die immer auf ihn gewartet hat, ohne zu wissen, wer er ist. Er, der intuitiv die Möglichkeit einer Verbindung seines Leidens mit den Hoffnungen der Liebe erfasst und dieser Köchin mit den dunklen Augen vom ersten Moment an verfällt. Ganz ohne Argwohn, ganz ohne um sein Leben als Schriftsteller mit ihr streiten zu müssen, wie mit allen anderen Frauen zuvor, die an seiner Seite ihren Platz finden wollten.
Das Essen, vielmehr seine liebevolle Darreichung – als sei es eine leichte Berührung der Haut, der Hände, der Haare – wird in der Folge der unmerkliche rote Faden sein, an welchem Michael Kumpfmüller seinen so leisen wie klugen Roman inszeniert. Denn er muss ganz nebenbei alle Forschung zu Kafka berücksichtigen und natürlich die Briefwechsel, die bekannten Personen, die Erinnerungen. Alles fließt in diesen Roman ein, ohne sichtlich ein starres Gerüst abzugeben und genau in diesem Punkt besteht die Stärke dieses so leicht als wäre es ein Soufflee daherkommenden Romans.
Man möchte an dieser Stelle gar nicht von der unterschiedlichen Tonalität, welche die drei Abschnitte des Buches charakterisieren, sprechen, denn dies ist lediglich ein kleiner Teil des ausgeklügelten Konzepts. Doch schweigen kann man nicht von den durch Dora dargereichten Dingen für den Liebsten. Die Milch, das Frühstück in der gemeinsamen Wohnung in Berlin. Das Angebot im Spital für ihn zu kochen, später in Kierling bei Klosterneuburg. Hier zeigt sich die Liebe des Todkranken. Schließlich ist er es, der unter Schmerzen die Darreichungen seiner Freundin in sich aufnimmt, um beide glauben zu lassen, dass ein gemeinsames Leben noch möglich ist. Kumpfmüller zeigt dem Leser hier melancholisch und ernst, dass uns die Hoffnung um der Hoffnungslosen Willen gegeben ist. Die Liebe überschattet das Leid und für einen kurzen, fast unscheinbaren Moment selbst das Gespenst des eigenen Ablebens. So verwandelt sich eine vom Tod überschattete Geschichte in eine Allegorie auf die Liebe als Abwesenheit des leeren Lebens als schon gelebten Tod.
Kochen – ein liebevoller Abschied
Der Roman kreist um die drei Stationen der Liebenden. Das Ostseebad Müritz, wo sie sich kennen lernen, als hätten sie wie im Traum schon immer aufeinander gewartet. Das gemeinsame Wohnen in unterschiedlichen Wohnungen in Berlin bis klar wird, dass die Stadt für den kranken Kafka nicht länger zumutbar ist und schließlich der Aufenthalt im Sanatorium in Kierling bei Wien. Es wäre ein Leichtes, diese Stationen als Schichten des körperlichen Verfalls Kafkas zu beschreiben. Doch Kumpfmüller nimmt die Teleologie seiner Geschichte als willkommene Vorlage für das Wachsen der Liebe.
Im Sanatorium gibt es das übelste Gräuel für Kafka: den Essenszwang. Und es kommt einer Erlösung gleich, wenn der institutionelle Zwang durch das Essen der Liebsten ersetzt wird. Im letzten, dem Abschiedsstadium wird das Essen zum verbindenden Element zwischen den sich trennenden Körpern. Als eine Schwester das beinah unberührte Tablett abholt, fasst sich Dora ein Herz und fragt die Schwester, ob sie nicht für ihren Mann kochen könne. Nach anfänglichem Zögern erlaubt es die Schwester und zeigt Dora die Stationsküche. Dora macht sich auf zum Einkauf, denn er wünscht sich Suppe, ein gekochtes Huhn, einen Kuchen. Gerne möchte er essen, denn Kochen und Essen sind nun die Zeichen der Liebesbekundung. Einkauf, Zubereitung und Darreichung der Mahlzeiten vertreiben die Schatten des Todes. Nur Lebendiges kann essen.
Zum Frühstück bringt sie ihm nun fette Milch oder Kakao, danach Eierspeisen. Huhn oder Kalbskotelett begleitet von Blumenkohl, oder Buttertomaten. Kuchen mit Schlagsahne zum Dessert. Butterflocken mit Milch zum Tee. Abends bereitet sie ihm ein Gericht aus Eiern. Wie kann Kafka da nur an Gewicht verlieren? Wie kann sich Kafka bei Dora bedanken? Er hat fast nichts mehr, außer seiner schwindenden Stimme, den Blickwechseln. Es scheint zwangsläufig, dass er Dora hier, in der denkbar unromantischsten Situation eines Spitals der KuK-Zeit einen Heiratsantrag macht. Dora hat ihm gerade das Frühstück gebracht und sagt sofort „ja“.
Doch der Roman haftet konsequent an den bekannten Fakten. Die Hochzeit wird nicht vollzogen werden können und für Dora bleibt nur ein kleiner Moment der Erinnerung an die gemeinsame glückliche Zeit und an jenen Augenblick, in dem sie vor Glück zerspringen wollte und ihn am liebsten „für sich allein in der Küche gehabt“ hätte.
Es ist das Verdienst des Autors Michael Kumpfmüllers, Kafka für den Leser lebendig zu gestalten und Dora Diamant vor dem Vergessen zu bewahren. In diesem Roman kehrt sie als so starke wie lebenslustige Frau in die kollektive Erinnerung zurück.
Für Sie gelesen
Michael Kumpfmüller. Die Herrlichkeit des Lebens. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2011
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