Handwerk bis zur Kunst verfeinert
Tartuffel:
Marc, wie entstand deine Verbindung zu Essig?
Marc Boehringer:
1887 wurde der Grundstein für die familiäre Essig-Tradition gelegt. Als meine Urgroßtante und mein Urgroßonkel heirateten, wollten sie das Ereignis nicht nur mit der Familie und Freunden feiern, sondern zugleich etwas machen, was sie fortan täglich an diesen Tag genussvoll erinnern sollte. Also verbanden sie das Außergewöhnliche der Hochzeit mit dem alltäglich genutzten Lebensmittel, den Essig. Denn sie haben am Tag ihrer Hochzeit die Boehringer Essig-Mutter angesetzt. Diese Mutter wird nun schon in der 4. Generation gepflegt. Ich bin, wenn man so möchte, mit diesem Essig und seiner Familientradition aufgewachsen. Dazu gehört aber nicht nur die Essigmutter. Mit dem Essig verbinde ich auch die zu seiner Herstellung nötigen Streuobstwiesen, die Apfelernte und den typischen Geruch von frischem Apfelmost.
T: War dir klar, dass du Essig einmal professionell herstellen möchtest?
MB: Nein. Essig lief in unserer Familie ganz normal unter den alltäglichen Dingen, die man braucht. Unsere Familie war schon immer im Besitz von kleinen Streuobstwiesen, die hier das Landschaftsbild seit Generationen prägen. Daher konnten sie den Essig selbst herstellen. Ich habe lediglich von Kindheit an gelernt, wie man diesen naturreinen Essig produziert. Ich selbst habe einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft bin ich in den Finanzbereich gegangen. Mein Beruf hat mir Spaß gemacht, aber nach der zweiten Wirtschaftskrise wuchs in mir das Gefühl, etwas geerdetes unternehmen zu wollen. Ich wollte etwas mit meinen Händen produzieren. Und vielleicht brauchte ich diesem Umweg, um meine Berufung zu entdecken. Denn immer schon habe ich gerne gut gegessen. Aber wenn ich geschäftlich in Restaurants war, stellte ich immer wieder fest, dass hier zwar sehr hochwertige Lebensmittel zubereitet werden, aber die Auswahl der Essige war meistens mau. Über hochwertige Olivenöle wurde überall philosophiert, aber das Thema Essig wurde eher stiefmütterlich behandelt. Man machte sich einfach keine Gedanken darüber. Als mir einmal ein schlichter, mit Zuckercouleur gefärbter Balsamico als Delikatesse angepriesen wurde, habe ich mich nach dem häuslichen Essig gesehnt.
T: War das der Moment, als du erkannt hast, dass der Familienessig etwas Besonderes ist?
MB: Es ist schon komisch, die Dinge, mit denen man aufwächst, sind für einen selbst völlig normal. Und erst auf Grund meiner Tätigkeit in einem doch eher abstrakten Geschäftsfeld, habe ich das Besondere im Einfachen entdeckt. Plötzlich ging mir der Geschmack des Mosts, den wir von Hand in der alten Presse gemacht haben, nicht mehr aus dem Sinn. Diese subtile Restsüße und sein leichtes, aber vielschichtiges Aroma, das er durch die lange Reifung entwickeln konnte.
T: Nun kann man ja nicht von einem Tag auf den anderen umsatteln. Wie hast du angefangen?
MB: Es kam mit der Zeit. Ich experimentiere nun schon seit 25 Jahren mit der klassischen Essigherstellung im Orléans-Verfahren. In dieser Zeit habe ich eine Menge gelernt. Ziel meiner Überlegungen war es, den Essig so schonend wie möglich herzustellen. Das heißt für mich, der Essig soll keine weiteren Zutaten erhalten, keine Sulfite, keine Farbstoffe, kein Zucker. Die Aromen, die ich dem Essig zugebe, sind alle natürlich. Und damit meine ich: es sind Früchte oder Kräuter, die ich selbst ernte oder von Freunden erhalte. Der Essig braucht gar nicht so viel, aber er braucht Zeit. Und er braucht die richtige Umgebung. Es wird viel von Fässern gesprochen, doch zunächst einmal braucht der Essig einen atmenden, nicht zu feuchten, gut belüfteten Keller mit einer gleichmäßigen Temperatur. Und er braucht Zuwendung. Man muss schauen, wie es ihm geht, wie er sich entwickelt. Und mit der Zeit, habe ich gemerkt, dass es mir sehr viel Spaß macht, meinen Essig zu perfektionieren. Vor 10 Jahren habe ich beschlossen, mich voll dem Essig und seiner Herstellung zu widmen. Einige Streuobstwiesen, die brach lagen, habe ich zu neuem Leben erweckt. Die alten Apfelbäume – einige sind über 120 Jahre alt - werden nun wieder gehegt und gepflegt. Es ist ein schönes Gefühl, auf diese Weise diese alte Kulturlandschaft zu erhalten. Alles wird mit der Hand gepflückt, ich verwende keine schadhaften Früchte, denn sie können sich negativ auf den Geschmack auswirken. Ich arbeite mit dem schonendsten, dem reinsten Ertrag. Durch die kurzen Transportwege ist gewährleistet, dass wir die Früchte schnell zur Presse bekommen. An der Schütte kontrolliere ich die Ernte persönlich. Auch das Abfüllen wird von mir persönlich vorgenommen.
T: Verwendest du nur reinen Apfelessig, oder arbeitest du auch mit Aromen?
MB: Ich pflanze selber Kräuter an, die sind das Tüpfelchen aufs I. Kräuter und alte Kirschen mache ich selber, es gibt kein Fremdmaterial, alles ist regional, von den Streuobstwiesen vor der Tür. Vom Pflanzen bis zur Ernte, vom Pressen bis zum Abfüllen, begleite ich das Produkt mit meinen eigenen Händen. „Von der Wurzel bis ins Glas“ - mehr Nachhaltigkeit geht in diesem Punkt nicht. Und nur so kann ich für die Qualität bürgen.
T: Der Most ist abgefüllt, was passiert dann?
MB: Dann gebe ich meinem Essig Zeit, sich zu entwickeln.
Viele Hersteller ziehen ihren Most nach 6 Wochen von der Hefe ab, so hat das Produkt kaum Zeit, feine Töne zu entwickeln. Wenn ich den bernsteinfarbenen Most abziehe, hat er 2,5 Jahre Zeit bekommen, bevor es dann in den Fermentationsprozess zum Essig geht. Erst im 12. Jahr gehe ich ins Barrique, zuvor arbeite ich mit maximal 100l Fässern und eben nicht in großen Tanks, so kann ich Fehltonbildungen vermeiden. Ich verwende gerne die älteren Fässer, in denen Wein oder Rum gemacht wurden, um meinem Essig diese feinen Aromaten, die vom Holz gespeichert worden sind, zuzufügen.
T: Was zeichnet einen hochwertigen Essig aus?
MB: Hochwertiger Essig zeichnet sich dadurch aus, dass er keine Fremdstoffe wie Zuckercouleur oder Zuckerersatzstoffe enthält. Der mikrobakterielle Prozess sollte sich auf natürliche Art abrunden. Nur so kann der Essig zu einem 100% reinen Naturprodukt werden. Und für mich muss das Produkt immer im Vordergrund stehen.
T: Was bedeutet Essig für dich?
MB: Essig ist eine Philosophie. Essig musst du streicheln. Du darfst ihn nicht wegsperren, den musst du riechen, fühlen, entwickeln. Du musst ihm Ruhe geben, damit er sich selbst entfalten kann. Jeder Essig entwickelt seinen eigenen Charakter und jeder geht einen anderen Weg, dabei muss man ihn aufmerksam begleiten. Er sagt dir dann, wann er soweit ist. Essig in naturreiner Form kann man nicht im Labor entwickeln.
Essig braucht Ruhe, verdammt viel Erfahrung. Dafür macht der Essig mit der Fülle seiner Aromen glücklich. Und Essig ist Parfüm. Ein naturreiner Essig hat nichts mit dem strengen Geruch der Essigessenz zu tun, er ist betörend, geschmackserweiternd, Aromen beschleunigend. Er schafft einen Ausgleich zwischen den Grundprodukten auf dem Teller. Er kann zu Aromenpaarungen beitragen und eine völlig neue Gefühls- und Geschmackswelt entwickeln. Unser Essig dezent über einen Salat gesprüht verändert dessen Geschmack auf sanfte, eindrucksvolle Weise. Genießen wir unseren Essig mit offenen Sinnen, beschert er uns bleibende Genussmomente. Ein guter Essig ist auch ein Stück Kunst, nicht nur reine Handwerkskunst, sondern eben ein Stück darüber hinaus.
T: Danke für das Gespräch.
MB: Sehr gerne, meine Mitarbeiter arbeiten ja ganz von alleine weiter – die Essigbakterien.
Weitere Informationen zum grandiosen Essig gibt es hier.