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Cover des besprochenen Bandes (Ausschnitt) |© Edition Suhrkamp

Grenzüberwindende Vielfalt

Michel Serres ist einer der Unsterblichen. Wirklich. Es gibt sie, nicht Gott, aber den anderen Menschen doch in einigen Belangen entrückt. Unsere lieben Nachbarn haben sich das einfallen lassen. Genauer gesagt gibt es diese Unsterblichen – stets 40 an der Zahl – schon seit 1635 mit der Eröffnung der Académie Française. Seit 1990 ist Michel Serres in diesem erlauchten Gremium Mitglied. Nun, nach 29 Jahren der Unsterblichkeit überkommt ihn ein gar nicht altersweiser Wutanfall, den man gelesen haben sollte.

Der gastrosophische Kopf der ersten Stunde bekommt einen optimistischen Wutanfall

 

Geboren am 1. September 1930. Seinen neunten Geburtstag wird er als Ausbruch des zweiten Weltkrieges erleben. Die Jahre danach prägen den Jungen durch den Umgang mit den Besatzern, deren Sprache und den Folgen des Krieges, die das Denken, das Miteinander und den Alltag bestimmen. Hunger und Mangel an allem prägen sich als kollektive Erfahrung ebenso ein, wie die Ablehnung jeglicher autoritärer Regierung. Früher, so das Urteil des Mannes, der nun bald sein 9. Lebensjahrzehnt vollendet, war nichts besser, es war schmutziger, ärmer, es war Krieg und es waren die Eltern der Kinder, die diese in den Krieg trieben. Sei es durch ihre Arbeit in den Verwaltungen oder durch gelebten Patriotismus.

Serres zeigt, das sein Alter einen anderen, eine historischen Horizont heraufziehen lassen kann. Sein Großvater stand noch im Deutsch-Französischen Krieg, sein Vater im ersten Weltkrieg an der Front. Die Geschichte dieser Generation ist immer auch eine Geschichte der europäischen Kriege und der damit einhergehenden Leiden gewesen. Das kriegerische Denken entwickelte sich innerhalb der Familien und vererbte sich. Heute werden die Jungen älter, sie müssen nicht mehr jung im Krieg sterben. Unsere Lebenserwartung hat sich deutlich erhöht, wir haben mittlerweile nicht nur wirksame Schmerzmedikamente entwickelt, wir wenden sie auch an. Aber vor allem – abgesehen von der Überwindung des Krieges in Europa, der nun schon so lange andauert, dass man in Familien wieder von anderen Dingen als den persönlichen Verlusten durch den Krieg reden kann – ist es der Gewinn an Horizont und Hygiene, der uns den Alltag sorgenfreier gestalten lässt.

Jeder blieb in seiner Ecke bei seinem Käse

Aber er spricht auch eine andere Wahrheit aus. Damals, da kam man in den Stall und konnte diesen Geruch in sich aufnehmen und wie nebenbei wusste man nicht nur den Namen der Milchkühe, sondern – und wer weiß das heute noch – ihre Rasse. Es waren Blonde d´Aquitiane. Welch wunderbares Fleisch diese Kühe hervorbringen wird der Autor wissen, denn er kommt aus der Gegend der Kühe, die ihm auch seinen spezifischen Akzent vererbte. Lange noch hatte er in Paris das Problem, sich nicht adäquat auszudrücken, also so, wie sich das die Kleingeistigen unter den Parisern – also gerne auch Professoren -  vorstellen. Dafür aber, trotz Kuh nähe war er kulturell von der anderen, der Nicht-Butter Seite seines Heimatlandes Frankreich geprägt. Denn, was wir selten von unseren Nachbarn wissen. Frankreich ist geteilt – nein nicht, wie Julius Cäsar sagte in drei Teile, sondern in deren zwei. Der eine Teil ist der akzentsprechende Teil, in dem Olivenöl zur Grundausstattung einer jeden Küche gehört, der andere Teil derjenige, der Butter als festen Bestandteil im Kühlschrank bevorratet. Der aus der Milch hergestellte Käse findet sich in allen Küchen, aber zur Kindheit unseres Unsterblichen eben nur der, vor Ort hergestellte.

Unter der Überschrift „Lebensmittelherkunft“ geht der Autor der Philosophie der Gemische und Gemenge mit seiner Vergangenheit, die natürlich auch die seiner Generation ist, hart ins Gericht. Lassen wir mal die Ansteckung des Autors mit Maul- und Klauenseuche, den Tripper des Bäckers von Nebenan und einige andere unappetitliche Details außen vor, dann kommen wir zu folgendem Eintrag:

„Ah, die Herkunft! In unserer gascognischen Ecke gab es keine nennenswerte Tierzucht. Zum Abschluss des Essens aßen wir darum einen Cantal, der von fahrenden Auvergnaten verkauft wurde, die aus ihrem bergigen und fernen Norden herunterkamen. Überzeugt, dass es nur diesen einen und einzigen Käse gab, nannten wir ihn „Tafelkäse“, also nicht bei seinem Eigennamen, sondern beim Gattungsnamen dieses Milchprodukts. Die normannischen Freunde aßen Pont-L´Évêque, die Savoyarden ihren Reblochon, zweifellos im gleichen Bewusstsein der Exklusivität. Früher blieb, anders gesagt, jeder in seiner Ecke bei seinem Käse.“

Und die Kühe, deren Milche das Ausgangsprodukt des Cantal bildete, waren keine Blonden aus Aquitanien, sondern ganz schöne dunkle Salers, deren gleichnamigen Käse sie ebenfalls durch ihre Milch ermöglichen. Mittlerweile kann man sich diese und andere Informationen per Klick auf sein Handy laden, aber gerade beim Rohmilchkäse aber merken wir, dass wir analoge Wesen sind und uns digitale Information nur ein halbes Wissen vermittelt. Um hier den Horizont zu erweitern, sollte man sich die Informationen erfahren, sehen, riechen, spüren, wie es sich vor Ort anfühlt, denn die jeweiligen Käse transportieren ein jeweils typisches Terroir und sie transportieren mit ihrer geschützten Herstellung noch Informationen von Früher, die sich im Mund in ganz speziellen, charakterstarken Genuss übersetzen.

Die Butter- und Olivenölgrenze

 

Früher aber hatte man noch so etwas wie eine Ethnologie und betrachtete staunend wie im Zoo diese merkwürdigen Wesen aus Belgien, die allen ernstes Butter aßen. So rief der Onkel des kleinen Michel „komm schnell gucken, die essen Butter!“ Frankreich zerfiel in zwei Sprach-Teile. Wo die langues d´oïl gesprochen wurden, strich man sich Butter aufs Brot, im Gebiet der langues d´oc gab man etwas Olivenöl mit einem Hauch Knoblauch auf die Kruste. Und es ist diese früher klare Sprachgrenze, die nun allmählich, wie die strikte Unterscheidung von Butter und Öl zerfließt. Früher gab es mehr Grenzen, sie zu überwinden und gleichzeitig die Vielfalt der von de Gaulle zum Sprichwort gebrachten 258 Käsesorten zu erhalten, ist die Herausforderung der Gegenwart für die Zukunft. Wir sollten alten Männern nur zuhören, wenn sie nicht mit der Lüge hausieren gehen, dass früher alles besser gewesen wäre. Den Wutanfall des Unsterblichen sollte man genießen. Ein Wutanfall als Lektüreempfehlung.

Michel Serres: Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall. Edition Suhrkamp 2019, 12,00€

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