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Gekochte Menschwerdung

Was macht uns Menschen eigentlich zu homo sapiens? Ganz einfach: die Kultivierung von Feuer und Wasser zum Zwecke des Kochens. Das Feuer versetzt unsere Vorfahren in die Lage eine Vielzahl von Lebensmittel leichter verdaulich zu machen, das Wasser erweitert das Nahrungsangebot bis hin zu den heutigen Grundnahrungsmitteln.

Michael Pollan erklärt, warum die Kultur mit dem Kochen beginnt

 

Für James Boswell war es der zentrale Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass der Mensch kochen kann. Ebenso wie Claude Lévi-Strauss zur Mitte des 20. Jahrhunderts sieht er schon 1773 im Kochen als symbolische Handlung den Unterschied zwischen Mensch und Tier markiert.

In unseren modernen Gesellschaften verbringen wir immer weniger Zeit mit dem Kochen. Dafür schauen wir immer öfter TV-Köchen bei der Verrichtung ihres marktschreierischen Handwerks zu. Es scheint, als würden die Fertiggerichte, die wir uns zunehmend einverleiben, dadurch aufgewertet, dass wir beim Kauen auf hochwertige Lebensmittel und deren Zubereitung jenseits der Mattscheibe schauen.

Amerika macht hier den Vorreiter. Im Schnitt kochen Amerikaner nur noch 27 Minuten am Tag und konsumieren immer mehr Fertigprodukte. Ähnlich wie wir reden sie zwar vermehrt über das Essen, lassen aber die Sprache über das Kochen selbst nicht mehr praktisch werden. Wir erleben hier das von Michael Pollan sogenannte Kochparadox: Wir vermissen es, anderen Leuten – wie Kinder der Mutter oder Großmutter – beim Kochen zusehen zu können. Dafür müssen nun Fernsehsendungen herhalten. Unsere Kultur beginnt mit dem Kochen und darum wollen wir das Kochen nicht ganz aus unserem Leben verschwinden lassen. Gleichzeitig verbringen wir aber immer weniger Zeit in der Küche, da wir hier ein „Einsparpotential“ von Seiten der Lebensmittelindustrie ermittelt bekommen haben.

Kultur beginnt mit dem Kochen

Anscheinend stehen wir zumindest in den modernen Gesellschaften an einem Scheideweg unserer Phylogense. Denn sollte die Arbeitsteilung zunehmend das Kochen aus dem Haushalt verbannen, sollten wir also das Kochen der Lebensmittelindustrie überlassen, wird ein zentraler Teil, vielleicht sogar das Fundament unserer Kultur, wegbrechen.

Laut Richard Wrangham, Professor für biologische Anthropologie in Harvard, ist das Hirn der „Energiekiller“. Wir konnten es erst derart entwickeln, als wir lernten uns nicht mehr ausschließlich von roher Nahrung zu ernähren. Im Vergleich zu Primaten unserer Größe haben wir nicht nur ein wesentlich kleineres Verdauungssystem, sondern wir verbringen auch wesentlich weniger Zeit mit dem Kauen unserer Nahrung.

Durch die Kultur des Kochens wird das Kochen für uns zu einer natürlichen Notwendigkeit – unsere energiekillenden großen Hirne und unsere kleinen Verdauungsapparate machen uns vom gekochten Essen abhängig. Gleichzeitig entwickelt sich unsere Kaumuskulatur zurück und so schafft das Kochen Platz für die anderen notwenige Voraussetzung für menschliche Kultur: die Verwendung einer differenzierten Sprache.
 

Küchen-Arbeit zwischen Natur und Kultur

Sollten wir aber nicht froh sein, wenn wir die Küchenarbeit endgültig delegieren und hinter uns lassen können? Sehr wahrscheinlich liegt hier der Hase im Pfeffer begraben. Politische Reformer – nicht zuletzt Lenin – wollten die Frauen aus der Küche befreien. Dies aber aus dem Grund, da ihrer Meinung nach dort nichts von Bedeutung stattfindet. Wenn aber unsere Freizeit von uns lediglich dazu genutzt werden soll, zu konsumieren, dann kann Kochen eine gute Kraft gegen den Konsum sein. Denn das Kochen macht uns ein Stück unabhängiger von Werbeeinflüsterungen, die uns Fertigprodukte angedeihen lassen wollen, aber vor allem werden wir durch das Kochen vom bloßen Konsumenten zum Produzenten. Und noch einen wichtigen Aspekt hält das Kochen für uns parat: Über das Kochen können wir einiges über uns und unsere Menschwerdung lernen. Vorausgesetzt wir bewahren uns etwas kindliche Neugierde oder lesen Pollans Buch.

Elementar betrachtet steht der Koch genau zwischen Natur und Kultur. „Er übernimmt die Rolle des Vermittlers zwischen den beiden Welten und bringt sie zusammen.“ Pollan unternimmt einen weiten kulturwissenschaftlichen  Exkurs, um dem Leser zu vermitteln, wie sehr die menschlichen Tätigkeiten des Kochens mit den vier Elementen zu tun haben. Denn jedes Kochen ist eine Transformation: Wir verändern ein Stück rohe Natur in gekochte Kultur. Sei es durch Feuer, durch die Nutzung von Wasser, durch Bakterien aus der Luft oder durch die Arbeit von Pilzen.

Die Nutzung des Feuers ist sicherlich die erste Methode zur Zubereitung von Nahrung, die dazu führt, dass wir uns von Primaten hin zu Menschen entwickelen. Die Nutzung des Feuers macht Nahrung nicht nur länger haltbar, sie dient vor allem dazu, dass wir unser Speisenangebot ausdehnen können. Das Feuer und seine Beherrschung stehen am Anfang aller Koch-Kultur.
 

Vom Feuer zum Wasser

Vom Feuer zum Wasser ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Sehr wahrscheinlich ist die Erfindung des Kochtopfes die letzte große menschliche Erfindung, von den militärischen Erfindungen und den Entwicklungen seit der industriellen Revolution vor knapp 200 Jahren einmal abgesehen. Aber der Kochtopf verschafft uns die Unabhängigkeit von der Jagd. Das Angebot an Beeren und Hülsenfrüchten erweitert sich, vor allem aber werden zahlreiche Pflanzen und letztlich unsere heutigen Grundnahrungsmittel für uns erst essbar.

Bevor es den Topf gab, sorgen Kochsteine für das Garen von Nahrung in heißem Wasser. Die Steine werden im Feuer erwärmt. Tiermägen oder Tierfelle werden vernäht, mit Wasser gefüllt und mit Hilfe der Steine wurde das Wasser auf Temperatur gebracht. So garen die Zutaten im Wasser, ohne durch die direkte Flamme des Feuers Schaden zu nehmen. Bildlich gesprochen lagern unsere Vorfahren einen Magen aus, um die Verdauungsarbeit durch das Kochen vorzulagern. Das Speisenangebot kann erhöht, die Kohlehydratzufuhr stabiler gehalten, die Arbeitsprozesse stärker arbeitsteilig entwickelt werden.

Wasser ist das zentrale Element des Kochens. Es erwärmt sich gleichmäßig und mit ihm die Kochzutaten, es entzieht den Produkten Flüssigkeit und geht chemische Reaktionen mit diesen Kochflüssigkeiten ein. Eine Brühe, Suppe oder Soße entsteht.

Das Element Wasser vereint all diejenigen Kochtechniken, die nicht direkt mit der offenen Flamme sondern mit dem Kochen im Allgemeinen zu tun haben. Auch wenn das klassische Bild der „pot eu feu“ ist, so geht es beim Kochen im Topf ja gerade um die Flüssigkeiten. Das Wasser als verbindendes und zentrales Element. Bringe Wasser zum Kochen und gare etwas darin. Schmorgerichte werden als Soulfood beschrieben, eine Hühnersuppe heilt, Tee wärmt, Kaffee macht uns fit für den Tag. Kochen mit Wasser hat etwas Heimeliges, Anregendes. Es ist wie eine wärmende Decke, die sich um uns legt.
 

Vom Wasser zur Luft

Das ungesäuerte Brot symbolisiert auf welche Weise wir im jüdisch-christlichen Abendland auf die Säuerung angewiesen sind. Denn das Besondere des Passah-Festes ist es ja, ungesäuertes Brot (Matzen) zu essen, um zu symbolisieren, wie wenig Zeit die Israeliten hatten, um Ägypten zu verlassen. Sie waren mangels Zeit dazu genötigt, ungesäuertes Brot zu essen. Eine absolute Ausnahme! Ansonsten wird dem Teig genügend Zeit gegeben, um durch die über die Luft zugesteuerten Bakterien zu einem Natursauerteig zu werden. Es ist die Luft, die mit Wasser vermengtes Mehl auf wundersame Weise zu etwas anderem verarbeitet, von dem wir nicht mehr lassen können und wollen: dem aus Natursauerteig hergestellten Brot.

Wasser und Brot sind nicht nur im christlichen Verständnis die grundlegenden Fundamente unserer Ernährung. Brot ist dabei das Symbol der Sesshaftwerdung der Menschen. Erst nachdem die Menschen gelernt haben, die heute sogenannten Grundnahrungsmittel zu kultivieren, sehen sie sich in die Lage versetzt, an einem Ort zu bleiben. Brot ist dabei auch heute in Zeiten der Singelportionen noch ein Lebensmittel, welches so proportioniert ist, dass es geteilt wird. Brot stiftet Gemeinschaft.
 

Von der Luft zur Erde

Die vielleicht wichtigste, sicherlich auch die älteste Kochtechnik ist die der Fermentation. Etwas wird mit Luft in Verbindung gebracht und nach einigen Tagen gärt und blubbert es. Ganz so als würde eine Flüssigkeit kochen, wird ohne Hitze ein Prozess des Kochens in Gang gesetzt. Lassen wir an dieser Stelle einmal die Fermentationen mit Essig außer Acht, das Thema würde zu weit führen. Aus Traubensaft wird Wein, aus Weizen wird Bier, aus Milch wird Käse. Dies ist in mehrerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Prozess. Lange bevor wir Milch vertragen können, gibt es schon die Viehwirtschaft, die für den Nachschub an Käse und weitere Milchprodukte wie Joghurt und Dickmilch sorgt. Sehr wahrscheinlich entdeckt man dann durch Zufall, als man Milch an einem warmen Tag in einem Magen eines jungen Kalbes lagert, dass sich hier Käse entwickelt und die Milch so länger haltbar und schnittfest wird.

Fermentation macht die für unsere Vorfahren unverträgliche Milch genießbar und sie verwandelte einzelne Zutaten in Alkohol. Von daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass es nicht die Kultivierung von Grundnahrungsmitteln ist, die unsere Vorfahren dazu bewegt, das vielfältige Speisenangebot der Jäger- und Sammler durch ein armseliges Dasein als Bauern einzutauschen, um fortan Getreidebreie als Nahrung zu haben, sondern vor allem die Idee, aus dem Getreide Bier brauen zu können. Denn Alkohol stiftet überall auf der Welt Gemeinschaften. Alkohol genießt man gemeinsam und auch heute ist es so, dass man den einsamen Trinker eher für einen Alkoholiker hält. Darüber hinaus schützt mäßiger Alkoholkonsum vor einer Reihe von Krankheiten, Menschen, die in Maßen Alkohol konsumieren („Auf die Gesundheit“), leben in der Regel gesünder als totale Abstinenzler.
 

Das Koch-Paradox

Sehr wahrscheinlich liegt der Erfolg der Kochshows darin begründet, dass wir als Kinder daran gewöhnt waren jemanden beim Kochen zuzusehen. Und diese Erfahrung wollen wir nicht ganz aufgeben. Wie aber wird es um die Generation unserer Kinder bestellt sein. Wenn sie diese Erfahrung nicht mehr machen?

Nicht nur das Kochen und das Beobachten der Kochvorgänge ist ein zentrales Merkmal unserer menschlichen Kultur, sondern auch das gemeinsame Essen. Man schaut sich in die Augen, zähmt sich und erlebt die ersten grundlegenden Schritte der Zivilisation.

Mittlerweile verbringen wir statistisch gesehen mehr Zeit damit „nebenher“ zu essen, als uns gemeinsam zu Tisch zu begeben. Der fast ständige Nebenherkonsum von Fertigsnacks hat mittlerweile den Terminus des „secondary eatings“ hervorgebracht.

„Die sogenannten ‚kulturellen Widersprüche des Kapitalismus’ – seine Tendenz, die stabilisierenden sozialen Formen, von denen er abhängt, zu untergraben – prägen die heutigen amerikanischen Essgewohnheiten ebenso wie all die grellbunt verpackten Fertigprodukte, die die Lebensmittelindustrie erfolgreich auf unsere Esstische brachte.“

Dabei geht uns das Bewusstsein dafür verloren, wie uns das Essen mit der Welt verbindet. Fertigprodukte stellen lediglich künstliche, überfettete und überzuckerte Versionen echter Nahrung dar – „ich nenne sie essbare nahrungsähnliche Substanzen. Am Ende versuchen wir uns von Bildern zu ernähren“. Eine Analogie, die sehr treffend zeigt, wie sich unser Verhältnis zu unserer Nahrung entwickeln kann. Wenn wir grundsätzlich den Bezug zu ihr verlieren, benötigen wir schöne Bilder auf den Packungen, die uns suggerieren, was sich hinter der Verpackung versteckt und uns durch die Bildsprache den überwürzten Pamps in ein Wunschbild übersetzen.

Dies sind lediglich einige der Aspekte, die Pollan in seinem opus magnum versammelt hat. Das Buch ist nicht nur eine kulturhistorische Fundgrube ersten Ranges, es liest sich auch noch verschlingend gut. Sollten sie während oder nach der Lektüre den Drang verspüren, ein ganzes Schwein am Stück zu grillen oder Schmorgerichte anzufertigen, zu backen, oder selber Bier zu brauen, so sagen Sie nicht, ich hätte Sie an dieser Stelle nicht gewarnt.

Für Sie gelesen

Michael Pollan: Kochen. Eine Geschichte der Transformation. München 2014.  524 Seiten geb.; 29,95€

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 Mehr auf Tartuffel

Phänomene: Bier
Charaktere: Cook it raw
Bücher: Kultur beginnt mit dem Kochen
Zutat: Alkohol
Zutat: Topf



Text: Nikolai Wojtko

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