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Filmisches Verschlingen

Die Darstellung von Essen im Film ist fast so alt wie das Medium Film selbst. Mit Charly Chaplin, der in „The Gold Rush“ 1925 seinen Schuh kocht und dabei die Schnürsenkel wie Spaghetti aufrollt und genüsslich verspeist, haben wir den prominentesten Vertreter der Stummfilmzeit noch im Gedächtnis.

„KULINARISCHES KINO“ liefert neue interdisziplinäre Betrachtungsweisen zu bekannten Filmen

 

Essen dient im Film nicht nur als Dekoration, sondern ist Verweis auf Etwas - sei es die soziale Stellung, die Form des Umgangs miteinander, die Illustration eines Gefühls - oder selbst der Protagonist, dem die anderen Figuren untergeordnet sind.

In seinem grandiosen Aufsatz „Nahrungskette und narrative Struktur“ stellte Gerhard Neumann 2008 fest, dass die „Nahrungsvorgänge eines der wesentlichen materialen Substrate allen kulturellen Geschehens“ seien, und dass der Film eines der privilegierten Medien sei, um diese kulturellen Zusammenhänge darzustellen und zu reflektieren. Was also wäre aus kulturwissenschaftlicher Sicht lohnender, als Filme auf ihren kulinarischen Symbolgehalt hin zu analysieren?

Mit Spannung darf man also ein Projekt betrachten, dass es sich zur Aufgabe gemacht hat, Essen und Trinken im Film auf interdisziplinäre Weise zu untersuchen und die Funktionsweisen der Darstellung des Kulinarischen für einen breit angelegten wissenschaftlichen Diskurs zu öffnen.

Sinn und Sinnlichkeit des Essens

Das Kulinarische Kino, so die Herausgeber in der Einleitung des Bandes, „ist ein Kino, das Sinn und Sinnlichkeit des Essens selbst in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückt.“ Bei der äußerst heterogenen Zusammensetzung der Beiträger dieses Bandes – darunter Agrarwissenschaftler, Ernährungspsychologen, Filmemacher, Ökotrophologen, Polymerforscher, Philosophen und Soziologen - spricht vieles dafür, dass man dem Phänomen des Kulinarischen Films aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven zu Leibe rücken will, um die Thematik auf breite Beine zu stellen.

Das hierbei die analysierten Filme zu den Klassikern des Genres zählen, überrascht daher nicht. Aber durch den Rekurs auf die kulinarischen Filmklassiker wird der Referenzraum, den das Kulinarische im Kino abbildet, für den Leser überzeugend großflächig ausgeleuchtet.

In ihrem einführenden Beitrag zu „Brust oder Keule“ von Claude Zidis umreißen Susan Groß und Janine Legrand in groben Zügen die etablierten Lesarten des Films aus dem Jahr 1976 und bereiten den Leser auf diese Weise auf den vielschichtigen Essay von Thomas Vilgis vor, der den Filmklassiker mit den Dokumentarfilmen „el bulli – cooking in progress“ aus dem Jahr 2011 und Valentin Thurns „taste the waste“ auf eher anwendungspraktische Weise miteinander in Verbindung bringt, um den Wandel der Esskultur bis in die Küche des Alltags und die sich daraus ergebenden Implikationen zu untersuchen.

Dabei verblüfft gerade der theoretisch fundierte Blick auf vermeintliche Feindbilder, die sich in der Analyse auflösen wie Nebel im Wind. Vilgis schließt das inhaltliche Potential von „Brust oder Keule“, in dem der Kampf der hohen Kochkultur gegen die Industrienahrung auf humoristische Art inszeniert wird, mit den aktuellen Entwicklungen der Ernährungskultur kurz und verweist auf eine Verbindung beider Techniken, auf welche die klassische französische Küche selbst noch keine Antwort gefunden hat. Denn in seiner später als Molekularküche bekannten Innovation wagte erstmals Ferran Adrià die Fusion von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln mit industriellen und hochtechnischen Methoden, um den Geschmack der Produkte zu intensivieren und ein vielschichtiges Spiel mit Texturen und Kontrasten zu ermöglichen.

Selbst wenn die Zeit der Molekularküche angeblich vorbei sein soll, durch sie haben wir gelernt, auf unterschiedliche Texturen der Speisen zu achten. Doch die Molekularküche kann noch mehr: Im Alltag, so zeigt Vilgis mit Rückgriff auf den unappetitlichen industriell hergestellten Fleischbrei aus „Brust oder Keule“, können wir mit Mitteln, welche uns die Molekularküche bereitgestellt hat, im besten Sinne eine Resteverwertung betreiben, um so der Verschwendung von Lebensmitteln entgegenzuwirken. Im Zeitalter der Nahrungsmittelknappheit und der Überbevölkerung erscheint so das Bild der Lebensmittelindustrie nicht mehr nur als Dämon.

Bild und Sprache

In seinem Essay „Die Delikatessen der Delikatessen“ zeichnet Peter Peter anhand von „Babettes Fest“ mustergültig nach, welche gesellschaftlichen Symbole und welche kulturelle Ausformungen durch kulinarisches Kino zum Sprechen gebracht werden können. Es sind dies nicht schlicht die dargestellten Delikatessen oder ihr Verweis auf Stillleben, mit ihrer biblisch übertünchten sexuellen Konnotation, sondern die universalen Themen wie Künstlerschaft, Integration, Fremdheit und Religion. Damit kommt der Film - mehr aber noch die hier vorgenommene Analyse - der Eingangs genannten Feststellung von Gerhard Neumann auf erstaunliche Weise nahe.

Doch nicht nur das Sinnlich-Erotische kann durch kulinarisches Kino ansprechen, wie Christoph Klotter in seinem Essay über „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ feststellt. Auch ihr Gegenteil, das Grauen und der Ekel. Eingangs beschreibt Klotter das Spannungsverhältnis von Wort und Bild im Abendland. „Am Anfang war das Wort“, heißt es schon im alten Testament. Und immer noch stellen wir das Wort über das Bild. So liegt es nahe, zunächst den sperrigen Titel des Films zu analysieren, offenbart er doch nichts weniger als eine Totalität: Eine Frau und drei Männer, die jeweils eine der psychosexuellen Phasen im Sinne Freuds repräsentieren, die orale der Koch, die anale der Dieb, die genitale der Liebhaber. Doch damit hat man weder den Film von Peter Greenaway erklärt, noch ihn genossen. Und vielleicht – so die These Klotters – sollte man ihn auch nicht einfach nur verstehen, sondern ihn vielmehr als Kunstwerk wahrnehmen. Denn Greenaways Film aus dem Jahr 1989 unternimmt den Versuch, sich gegen jegliche Andockung an Realität durch hermeneutische Interpretation zu entziehen. Dies veranschaulicht Klotter durch Analyse der Funktionsweisen der einzelnen Protagonisten und ihrer symbolischen Zuordnung. Das Essen und seine artifizielle Zubereitung im Film stellt dabei lediglich den Spiegel für die Ausscheidungen, die Exkremente dar. Letztlich aber verweigert sich der Film einer schlüssigen Interpretation, wie Klotter anspielungsreich darstellt. Alleine seine vielschichtige Interpretation des Diebes, Albert Spica - speaker, der Sprecher - der den Film mit seinen analen Nichtigkeitskaskaden sprachlich bis an die Grenze des Erträglichen führt, lohnt die Lektüre. Dabei scheint es, als hätte sich der Autor ein abgewandeltes Diktum Ludwig Wittgensteins zu Eigen gemacht: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben. So verbleiben wir logischer Weise beim Wort, das aber um seine eigene Begrenztheit in Bezug auf die Bilder weiß und sie auf diese Weise sprachlich umrahmt, ohne das Kunstwerk des Films zu sezieren.

Wie es Daniel Kofahl im Rahmen seiner Besprechung des Films „Tampopo“ gelingt, die Kochtheorie Jürgen Dollases kulinarisch zum Klingen bringt, stellt seine eigentliche Analyse, obwohl auch sie spannend und erhellend geschrieben ist, glatt in den Schatten. Wenn man sich an die gastrocineastische Verführung heranwagt, kann man sich sehr leicht in den Gedanken verlieben, „dass der Erlebnischarakter des guten Essens enorme Dimensionen annehmen kann“ (Dollase zit. nach Kofahl).

Kulinarisches Kino, so zeigt dieser vielstimmige Band, regt nicht nur den Bauch an, sondern lädt dazu ein, die Klassiker des kulinarischen Kinos noch einmal mit anderen Augen zu sehen und die kulinaristischen Chiffren des Gegenwartskinos wahrzunehmen. Man darf gespannt sein, ob das Projekt eine Fortsetzung erfährt.


Für Sie gelesen

Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.): Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film. © Transcript Verlag Bielefeld 2013

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Köpfe: Thomas Vilgis
Köpfe: Jürgen Dollase
Zutat: Fernseher

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