Elend & Gastrosophie
Über Hunger und gastrosophisches Elend als Stunde Null
Manchmal hat der Mensch eben nicht die Wahl. Dann nimmt er, was er bekommt, und stellt vieles zurück, um wenigstens etwas zu haben. Daran erinnern die Geschichten der Älteren und Ältesten von Brennnesselsuppe und Steckrüben, indem sie das hungernde Elend der so genannten Stunde Null beschwören. Den nachgeborenen Jüngsten überlieferte man diese Erlebnisse noch, als die Wirklichkeit der Ladenregale und Mittagstische längst schon eine andere war - Wirtschaftswunder sei Dank. Und fast immer gesellte sich zur drastischen Schilderung eine klare moralische Botschaft: der Teller wird leer gegessen - es wird nichts weggeschmissen - die tägliche Mahlzeit ist nicht hoch genug wertzuschätzen.
Doch die mahnende Autorität jener, die Hunger und Not der Nachkriegszeit überstanden hatten, besaß eine psychische Soll-Bruch-Stelle. Wenn sich meine Großeltern auf geräucherten Aal stürzten, beißend, lutschend, schmatzend, die Lippen in den fetten Fisch wölbend, sah dies eben nicht wie die moralische Wertschätzung eines Nahrungsmittels aus. Etwas zwanghaftes war darin zu erkennen, selbst wenn dieser Eifer als Genuss ausgegeben wurde. Mehr war es ein genusssüchtiger Trieb, sich in dem Geschmack zu suhlen, dessen Abwesenheit für die Hungerzeit stand. Als könnten sie essend nachreichen, was Bauch und Kopf damals verloren ging. Und Luxus war darin, im eigentlichen Wortsinn des Überflusses, der Luxus, den gestillten Hunger nicht als Befriedigung wahrnehmen zu müssen.
Elendige Lust
Das ist lange her und die Verwandten, die solche Hungergeschichten berichten können, sitzen in vielen Familien gar nicht mehr mit am Tisch. Zurück in diese Zeit des Mangels führt uns Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“. Das Elend, das er darin beschreibt, ist weniger eine existentielle Hungersnot, vielmehr sind die Figuren des Romans moralisch, politisch, psychisch verelendet. Ihre Biografien sind gebrochen, ihre Seelen traumatisiert. Es fehlt ihnen der Glaube an die Zukunft, und so sind sie weiterhin getrieben von der Vergangenheit aus Krieg, Diktatur und Völkermord. Im Vorwort zur zweiten Auflage von „Tauben im Gras“ skizziert Koeppen die gesellschaftliche Stimmung so:
„ [...] und viel Bedarf war nachzuholen, der Bauch war endlich zu füllen, der Kopf war von Hunger und Bombenknall noch etwas wirr, und alle Sinne suchten Lust, bevor vielleicht der dritte Weltkrieg kam.“
Aber die Lust ist eine hohle und getriebene, denn die Sinne sind abgestumpft und verdorben durch die Gräuel, welche die Überlebenden gesehen, gehört, erlitten haben. In so einer Welt ist das Genießen, wie es die Gastrosophie begreift, als Zusammenspiel von Verstand und Sinnen, nicht vorstellbar. Dagegen steht die wechselseitige Blockade von Kopf und Bauch. Den Figuren in Koeppens Roman ist das Schmecken verdorben, da die Assoziationen der Geschmäcker von den erlebten Grausamkeiten überlagert werden. Es bleibt das fade, „kopflose“ Schmecken, das jedoch keine Befriedigung verspricht. Dieser Fluch trifft selbst den berühmten ausländischen Schriftsteller Edwin, der für eine Lesung in die süddeutschen Stadt gekommen ist. Sogar ihm, der Krieg und Völkermord aus der sicheren Entfernung der Sieger verfolgte, ist das Genießen abhanden gekommen.
„Hatte Edwin die Lust an Küchenfreuden verloren? Das Essen schmeckte ihm nicht. Nicht appetitlos, nein angewidert verschmähte er die Erzeugnisse des berühmten Herdes, die leckeren Gaumenspezialitäten des Hauses, die man ihm in silbernen Töpfen und porzellanenen Schüsseln ins Zimmer gebracht hatte.“
Getränkekarte der Stunde Null
Noch deutlicher lässt sich die Kultur des Elends, weil im Roman explizit ausgebreitet, am Konsum von Bier, Wein und Spirituosen ablesen. Denn es sind in „Tauben im Gras“ - ausgenommen die Kinder - alle Figuren, die zum Glas greifen. Der Typus, den wir heute den Genusstrinker nennen, findet sich in dieser Personage nicht. Da sind eine Alkoholikerin, die aus „Lebensbitternis“ trinkt, die Gesellschaftsdame, die „irgendetwas“ trinkt, weil sie „müde“ ist, der Seelenarzt, der aus Trotz trinkt, obgleich er keinen Alkohol mag. Sie alle schmecken nicht, sie trinken Alkohol und Koeppen gibt sich große Mühe, dabei die komplette Getränkekarte der Nachkriegszeit abzubilden.
Kognak, Whisky, Gin, Kirschwasser, Wermut, Wodka oder einfach nur Schnaps, aber auch Bier, Wein und Champagner verleiben sich die Romanfiguren ein. Dabei nimmt Bier einen besonderen Stellenwert ein. Es ist das Getränk der Vielen, der Einfachen, wodurch ihm sofort eine symbolische Qualität erwächst.
„Bier hebt in Deutschland das nationale Bewußtsein. In anderen Ländern regt Wein, in manchen vielleicht Whisky den Nationalstolz an. In Deutschland ist das Bier der die Vaterlandsliebe belebende Stoff: ein dumpfer, ein nicht erhellender Rausch.“
So wird das Bräuhaus bei Koeppen zur nationalen Heimstatt und - ganz konsequent - zum Tatort rassistischer Ausschreitungen, die so gar nicht zur deutschen Gemütlichkeit passen. Selbst die zunächst verbrüdernd wirkende Bierseligkeit des Saals folgt nur der alten Melodie der gerade gestürzten Diktatur.
„Viele Amerikaner liebten das Bräuhaus. Sie fanden es großartig und gemütlich. Sie fanden es noch großartiger und noch gemütlicher als alles, was sie darüber gelesen oder gehört hatten. Die Oberländer-Kapelle spielte den Badenweiler Marsch, den Lieblingsmarsch des toten Führers. Man brauchte der Kapelle nur eine Lage zu spendieren, und sie spielte den Marsch, der den Einzug Hitlers in die Versammlungssäle der Nationalsozialisten begleitet hatte. [...] Der Saal hob sich wie eine einzige geschwellte Brust der Begeisterung von den Plätzen. Es waren nicht Nazis, die sich da erhoben. Es waren Biertrinker.“
Einfach nur trinken
Die Spirituosen trinkt man im Roman dagegen alleine. An der Hotelbar oder in der Stehausschänke. Und obgleich Koeppen auffallend viele Drinks benennt, sucht man eine geschmackliche, feinsinnige oder gar fachmännische Beschreibung der Getränkewahl vergebens. Edwin genehmigt sich ein Kognak, um sein Lampenfieber zu bekämpfen, und die junge Amerikanerin Kay trinkt Whisky aus der Spontanität einer „verrückten Begegnung“ heraus. Der US-Soldat Richard schmeckt sogar, dass man ihm einen gepanschten Wermut vorsetzt. Doch alle deutschen Trinker sind einsame Trinker, ohne jeden Anspruch gegenüber der Spirituose außer dem einen, eben Alkohol zu enthalten. Sie schmecken nicht, sie trinken, sie wollen nicht auswählen, einer Stimmung folgen oder sich in Stimmung bringen, sie wollen trinken.
Diese Tristesse lustloser Mechanik macht das Elend im gastrosophischen Sinne aus. Heißt es in Brillat-Savarins „Physiologie des Geschmacks“ noch "Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist", muss es bei Koeppen lauten: Egal was du trinkst, es manifestiert dein Elend. Das Alkohol Trinken ist lediglich ein Hinauszögern und Verdrängen. Es ist kein Genuss, keine Transzendenz des Alltäglichen oder „erhellender Rausch“ damit verbunden. Das Trinken hat in „Tauben im Gras“ keine Kultur sondern nur die Not.
Aufklärerisches Generationenprojekt
Es bedurfte nicht nur viel Zeit, bis die Deutschen wieder auf den Geschmack gekommen sind. Die Brennnesselsuppe steht mittlerweile im vegetarischen Kochbuch, die Steckrüben auch. Unser heutiges Elend heißt Übergewicht, falsche Ernährung, Industrie-Food und Geschmacksmanipulation, weshalb auch die moralischen Botschaften, die heute den Jüngeren bei Tisch serviert werden ganz andere sind. Doch die Lehre ist ganz einfach. Hunger und Elend schlagen der Kultur einer Gesellschaft auf den zivilisatorischen Magen. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Eine Verfeinerung der Sitten, so das aufklärerische Projekt dahinter, ist mit leerem Bauch und traumatisiertem Geist nicht zu machen.
Für Sie gelesen
Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, Roman, Bibliothek Suhrkamp.
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Köpfe: Norbert Elias