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Planung, Übersicht, Geschmack und handwerkliches Können sind seine unverzichtbaren Grundlagen | © Olivier Faye

Dieter Müller: Sauerkraut und Tafelspitz

Die erste große Bewährungsprobe, umfassende handwerkliche Schule und die Entdeckung professioneller Leidenschaft: meine Lehrjahre in den 1960er Jahren waren ganz entscheidend für meinen Lebensweg.

Das komplette ABC der badischen Küche

Ich entsinne mich noch wie ich diese große Küche das erste Mal gesehen habe. Mein Vater ging gerne und regelmäßig im Hotel Bauer in Müllheim in Baden essen. Eines Tages im Sommer 1963 nahm er mich dorthin mit, um mich als Lehrling vorzustellen.  Ich war  auf diesen Schritt vorbereitet, denn mein Bruder Jörg hatte seine Lehre dort zwei Jahre zuvor angefangen. Wir verbrachten im Hotel Bauer also ein gemeinsames Lehrjahr: er sein letztes ich mein erstes.

Als Lehrlinge mussten wir in diesem Betrieb schnell lernen, selbstständig zu arbeiten. Ich empfand diese Art des Umgangs als sehr förderlich, denn es taten sich so Freiräume auf, die ich nutzte, um eigene kulinarische Gedanken in die Tat umzusetzen. Davon abgesehen war unser Chef, der Herr Linsenboll, äußerst streng. Wir wurden behandelt, als wären wir in einem Internat.

Wir arbeiteten den ganzen Tag und der Ausgang war uns strikt untersagt. Einmal in der Woche fuhr uns der Chef persönlich ins Kino und schenkte uns die Eintrittkarten. Allerdings achtete er darauf, dass wir auch wirklich ins Kino gingen. Nach Ende des Films holte er uns  wieder am Kino ab. So sah meine Freizeit während der Lehre aus.

Damals verdiente ich ganze 20 Mark im Monat. Meine Eltern wohnten im südlichen Schwarzwald, also zu weit entfernt, um sie auf die Schnelle besuchen zu können. An meinem freien Tag besuchte ich aber oft meine Großeltern, sie wohnten im gerade mal 30 Kilometer entfernten Freiburg. Diese Aufenthalte waren wunderbar, wurde ich mit meinen gerade 15 Jahren doch liebevoll von meiner Großmutter verwöhnt. Das war gerade am Anfang der Lehre ein ganz wichtiger Ausgleich für mich, denn die erste Zeit war schon recht hart.

Fische und Sauerkraut

Mein erster Tag als Lehrling ist mir noch besonders in Erinnerung. Abends lag ich im Bett und fragte mich: „Warum will ich eigentlich Koch werden?“ Ich hatte zuvor stundenlang Fische küchenfertig gemacht. Das volle Programm: Schuppen, Bauch öffnen, ausnehmen und säubern. Es war kalt, meine Finger wurden klamm. Es roch nach Fisch, meine Kleider rochen nach Fisch, meine Finger rochen auch abends noch nach Fisch. Nach einigen Stunden Arbeit an diesen Fischen dachte ich, die Kiste wird überhaupt nicht leerer, es wird sicherlich niemals aufhören.

Nach dieser Aufgabe war ich wirklich verzweifelt. In den nächsten Tagen wurde man dann noch von allen anderen Mitarbeitern getrietzt. Ich musste Sauerkraut auf eine Leine hängen, all solche Sachen. Aber mit der Zeit wurde es besser und ich entwickelte ein gewisses Talent als Kämpfer. Später habe ich gemerkt, wie unglaublich wichtig dies ist, wenn man sich in der Küche entwickeln möchte. Man muss Leidenschaft mitbringen, den Mut haben, eigene Ideen zu entwickeln und neben dem perfekt verstandenen Handwerk stets ein offenes Ohr und ein waches Auge für seine Mitarbeiter haben. Ich glaube, dass dies entscheidende Eigenschaften für meinen Beruf sind. Kennen und schätzen gelernt, habe ich sie in meinen Lehrjahren in Müllheim. Zu Beginn seiner Berufslaufbahn muss man Energie aufbringen, um sich durchzukämpfen. Später braucht man dieselbe Energie, um jeden Tag mit Leidenschaft und Freude an sein Werk zu gehen.

Rotkraut, Rehkeule und Tafelspitz

Nach ein paar Wochen durfte ich zum ersten Mal  alleine Rotkraut kochen. Ich muss dazu sagen, dass ich Rotkraut schon damals liebte. Also machte ich mich an den riesigen Kochtopf. Ich musste einen Schemel nehmen, um das Rotkraut ein zu füllen. Ich habe einen Gewürzbeutel dazu getan, es gekocht und ein wenig gebunden, etwas Gänseschmalz für den Glanz zugegeben und es abgeschmeckt. Am Ende probierte die Chefin und rief durch die ganze Küche: „Mensch, so ein Rotkraut haben wir hier noch nicht gehabt!“ Da war ich zum ersten Mal als kleiner Anfänger stolz auf meine Arbeit.

In der Lehre habe ich das komplette ABC der ausgezeichneten badischen Küche gelernt. Zu den wunderbaren Gerichten, die wir damals kochten, zählten gespickte Rehkeule und ein Ochsenmaulsalat. Ein sehr schönes Gericht, das man heute kaum noch auf den Speisekarten findet. Eines meiner Lieblingsgerichte aus jener Zeit ist Tafelspitz mit Bouillonkartoffeln, Rote Beete Salat und Meerrettichsauce. Ein Essen, das es damals im Hotel Bauer jeden Samstag gab, und das ich bis heute noch im Repertoire führe. Der Tafelspitz ist also eine ganz lebendige Erinnerung an meine Lehrjahre.

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