Chefsache 2011
Chef-Sache in Köln: Keine Ästhetik ohne Ethik, kein Genuss ohne Botschaft
Es gehört zur kurzen, aber guten Tradition der Chef-Sache, die in diesem Jahr immerhin zum dritten Mal stattfand, dass man sich an diesen zwei Tagen Zeit nimmt, um das Wirken der Avantgardeköche zu genießen und zu reflektieren.
Ebenso zum guten Ton der Veranstaltung zählt, dass man dies redend macht, in Vortrag, Diskussion oder persönlichen Gespräch am Rande. Welchen Stellenwert das Reden und Schreiben für die Kultur des Kochens besitzt, zeigt die Auszeichnung der französischen Küche durch die UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe. Es ist Honoré de Balzac, der das Essen als kulturellen Wert in die Literatur einbringt und uns – und die UNESCO – bis heute über französische Menüfolgen als Ausdruck von Hochkultur räsonieren lässt. Seine literarische Darstellung des Kochens und Essens als Kunst und kulturelle Identität war dem damaligen Bewusstsein der Franzosen voraus. Nicht von ungefähr widmete die Chef-Sache dem Thema Weltkulturerbe einen eigenen „Talk“, der das Sprechen über das Essen und während des Essens immer wieder berührte. Ein Stück weit, fand dabei die Chef-Sache auch eine eigene Sprache als Veranstaltung.
In ihrem ersten Jahr stand die Chef-Sache noch komplett unter dem Eindruck der spanischen Avantgarde. Im vergangenen Jahr verschob sich der Fokus: Durch die besondere Beachtung der skandinavischen Küche und ihres exponiertesten Protagonisten, René Redzepi, und die Vorstellung der Vertreter der „Neuen deutschen Schule“ setzten die Organisatoren ein Zeichen. Demonstrativ wollte man auch die Konzeptionen und Ideen der in unserem Land gereiften Köche präsentieren.
Nun, in ihrem dritten Jahr, wird die Chefsache erwachsen und sie verweist um so entschiedener auf das Gespräch als Grundlage einer gelungenen kulinarischen Umsetzung. Wie sehr das Zusammengehen von Essen und Spreche die Kultur eines Landes zu beeinflussen vermag, erleben wir bei unseren französischen Nachbarn – selbst wenn wir diesen feinen Unterschied nicht immer eingestehen wollen.
Feinfühlig symbolisch eröffnete die Chef-Sache daher in diesem Jahr mit der Podiumsdiskussion zum Thema „Weltkulturerbe: Die französische Menüfolge“. Die Gästeschar war mit den Sterneköchen Jean Claude Bourgueil und Heinz Reitbauer, dem Restaurateur Vincent Moissonnier und dem Wissenschaftler Thomas Vilgis so klug wie ausgewogen gewählt. Leider jedoch war für das vorgesehene Streitgespräch, welches bei dieser Besetzung sicherlich eine tragende These für die folgenden Tage hätte entwickeln können, viel zu wenig Zeit bemessen, und es zeigte sich, dass Jürgen Dollase ein hervorragender Kenner der kulinarischen Szene - der seine Stärken im weiteren Verlauf des Programms immer wieder fruchtbar einbrachte – aber eben nicht der beste Talkmaster ist. Zu oft wollte er selbst die Argumentationen liefern, zu selten durften seine Gäste ihre kurzen Statements ausführen. Im kommenden Jahr sollte man einer solchen einführenden Diskussionsveranstaltung mehr Freiraum und Gewicht beimessen. Denn es ist das Wort, das eine Idee formt. Aber greifen wir nicht vor.
Nachhaltigkeit in der Sterneküche
Am Sonntag konnte man sich für zwei komplett unterschiedliche Konzepte der Kochkunst begeistern. Der aus der Steiermark nach Wien gewechselte Heinz Reitbauer verblüffte mit so interessanten wie naheliegenden Interpretationen einer regional verwachsenen Küche auf internationalem Spitzenniveau. Sein Konzept, den scheinbaren Beilagen eine Hauptrolle in den Menüs zukommen zu lassen, überzeugt gerade durch die Einbindung von Produkten aus der unmittelbaren Umgebung. Zusätzlich arbeitet Reitbauer seit Jahren eng mit ausgesuchten Produzenten der Steiermark zusammen und lässt seine Mitarbeiter zwecks besserer Produktkenntnis immer wieder bei verschiedenen Produzenten arbeiten. So wächst nicht nur die Wertschätzung der Kräuter, Gemüse-, Pilz- und Salatsorten, sondern es entsteht auch ein Wissensschatz jenseits der gewohnten arbeitsteiligen Prozesse.
Kontrastiert wurde diese beinahe schwebend leichte Performance durch den zur Zeit wohl besten Koch der Niederlande, Jonnie Boer aus Zwolle. Ein Mann mit einer imposanten Präsenz und Konzentration, der, obwohl er nie großartig in namhaften Häusern gekocht hat, mittlerweile zu den besten Köchen der Welt zu rechnen ist. Boer zeichnet aus, dass er schon früh seinen ganz eigenen Stil gefunden hat. Von Anfang an setzte er auf die Produkte aus seiner Region und baute systematisch die Pflanzen, die für seine Küche unabdingbar sind, im eigenen Gewächshaus an. Mittlerweile kann er auf diese Weise etwa 80 Prozent seines Bedarfs aus eigenem Anbau sichern. Boer fermentiert verschiedene Gemüsesorten und verwendet den so gewonnenen Saft für den aromatischen Fond vieler seiner Gerichte. Gleichzeitig ist er ein Meister darin, perfekte Formen für seine Kreationen zu bilden, so dass die Komponenten nicht nur schön dekoriert auf dem Teller liegen sondern auch beim Essen eine optimale Synthese bilden.
Das Fazit der Kochvorführung, das Jürgen Dollase zog, war eine tiefgründige Vorausschau auf die kommenden Jahre - und den folgenden Tag der Chef-Sache. „Ein Gourmet in diesen Tagen sollte sich einfach für alles interessieren.“ Natürlich handelte es sich hierbei um die Abwandlung der ironischen Frage: „Interessieren sie sich für etwas im Speziellen oder einfach nur für alles?“ Dollase benannte damit aber die aktuelle Situation in Deutschland: Es gibt viel Neues zu entdecken. Viele Köche, die sich ihre Sterne erkocht haben, reifen nun zu Persönlichkeiten mit einer eigenen Handschrift heran. Dabei sind ihre konzeptionellen Entwicklungen derart heterogen, dass es schwer fällt, von einer einheitlichen „Schule“ zu reden. Wollen wir das in Zukunft tun, müssen wir uns zunächst für alles Gute interessieren, bevor wir darin das Spezielle suchen.
Neue Deutsche Schule
Dieses Jahr standen vier Köche auf der Chef-Sache für die „Neue Deutsche Schule“. Eingeladen waren der Dieter Müller Schüler Nils Henkel, der bei Jörg Müller und Harald Wohlfahrt ausgebildete Thomas Bühner, Christian Bau, der ebenfalls bei Harald Wohlfahrt als Souschef seine Erfahrungen gesammelt hat, sowie Sven Elverfeld, der als Chef de Partie im Schlosshotel Lerbach unter Dieter Müller gearbeitet hat.
Sie repräsentieren also die Generation der Köche nach Dieter Müller, dem Begründer der „Neuen Deutschen Schule“. Wie man es schon auf der Chef-Sache des vergangenen Jahres bei Joachim Wissler beobachten konnte, verfügen diese Köche über eine ausgesprochene Persönlichkeit und Leidenschaft. Diese prägen die souveräne Art ihrer Präsentation, vor allem aber ihre spezifische Handschrift bei der Zubereitung ihrer Gerichte. Christian Baus Ansatz, die klassische französische Küche mit japanischen Ansätzen zu vermählen, spricht den Betrachter sofort an. Er sieht, dass hier jemand daran arbeitet, scheinbar unvereinbare Kochtheorien in einen optimalen Zusammenhang zu bringen. Dabei entsteht keine flüchtige Fusionsküche, sondern ein durchdachtes Zusammenspiel von Form und Inhalt.
Auch Thomas Bühner hat sich von herkömmlichen Aromenbildern gelöst und beweist mit seinen mutigen Kombinationen ein tiefes Verständnis für das Spiel mit dem feinen Geschmack. Trotz der mannigfachen Komponenten zeichnen sich seine Teller durch eine wahre Philosophie der Provokation und Harmonie aus. Nils Henkel hat sein schon im Vorjahr auf der Chef-Sache präsentiertes Konzept „Pure Nature“ in den vergangenen Monaten aromatisch verdichtet. Seine Teller sind noch vegetarischer geworden, um ein überzeugendes und vielfältiges Spiel von grünen Geschmackskomponenten zu präsentieren.
Sven Elverfeld – dessen Arbeit im Restaurant „Aqua“ in der San-Pellegrino Liste mit Platz 25 der besten Restaurants der Welt geehrt wurde – entwickelt seinen persönlichen Stil anhand sehr moderner Interpretationen deutscher Küchenklassiker. Er dekonstruiert die schon fast vergessenen Spezialitäten wie Jägerschnitzel, Tafelspitz und Handkäs mit Musik, um sie feinsinnig auf eine bisher unbekannte Art zusammenzufügen. Dabei bestechen seine Teller nicht nur durch die Harmonie der unterschiedlichen Texturen, sondern auch durch ein fundamentales Zusammenspiel unterschiedlicher Temperaturen sowie eine sehr ansprechende Ästhetik, die sich bei seinen Gerichten zu einem eigenen Stil herauskristallisiert hat.
Ethik und Ästhetik der Avantgarde
Gerade die Ästhetik macht Massimo Bottura, den das „Chef´s Choice“ in diesem Jahr zum besten Koch der Welt wählte, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Ästhetik, so führte er in seinem Vortrag aus, sei ohne Ethik nicht zu haben. So verbindet der Magier aus Modena das Kochen zwingend mit der Region und der Gesellschaft. Dabei fuße die Ethik des Kochs auf Verantwortung und Tradition. Noch bevor Bottura eines seiner herausfordernden Gerichte präsentiert, wird klar, dass eine Küche immer etwas zu sagen haben muss, wenn sie etwas ausdrücken will. Der Teller soll nicht nur mit einem ausgezeichneten Produkt versehen sein. Es reicht nicht, ein Spiel der Aromen mit einer herausragenden Kochkunst zu kombinieren. Ein Koch brauche stets auch eine weiterreichende Idee, so Bottura. Produkte der Region sind Bestandteil der Küche aber ebenso bedraf sie einer Idee, wie die traditionellen Vorstellungen und Zubereitungsarten des Essens. Bottura zeigt seine Arbeit, und während er redet, verdichten sich die erzählenden und die zu verzehrenden Komponenten zu einem Gericht auf dem Teller, das den Esser nicht nur zum Schwelgen bringt, sondern ihn gleichzeitig mit fundamentalen Fragen konfrontiert: Was schmecke ich eigentlich? Wie werden meine Sinne angesprochen? Was rieche ich jetzt? Wann habe ich das Essen das letzte Mal bewusst, mit allen Sinnen zu mir genommen? Wann habe ich mir das letzte Mal die Freiheit gegönnt, mein Essen mit den Fingern anzufassen? Welche Produkte gibt es in dieser Region? Wie wurden sie früher zubereitet? Was weiß ich eigentlich über das für mich lebensnotwendige Essen?
Bottura fordert nicht nur heraus, er regt an. Und natürlich gibt er einen Ratschlag an die jungen Köche: Lasst euch Zeit mit dem Lernen, benutzt keine Abkürzungen. Ihr müsst viel lernen und das Gelernte mit allen Sinnen in euch aufnehmen. Erst dann könnt ihr alles vergessen und etwas Neues erfinden.
Und fast scheint es so, als wolle Massimo Bottura nicht nur den Jungköchen im Publikum, sondern auch den jungen Köchen der „Neuen Deutschen Küche“ seinen Rat mit auf den Weg geben: „Ihr seid so weit. Ihr habt die Sterne. Ihr entwickelt euren Stil, eure Ästhetik. Jetzt entwickelt eure Ethik und dann habt ihr der Welt etwas zu sagen und vor allen Dingen, etwas Bleibendes zu geben. Ein Menü ist schnell verspeist, wichtig ist die Geschichte, die mit ihm erzählt werden soll und die das Gericht und seine Tradition weiter trägt.“
Präzision im Aufbau
Die Chef-Sache ist innerhalb kurzer Zeit zu einer nationalen Institution von internationalem Renommee geworden. Dafür gebührt ihr große Anerkennung. Sie trägt wesentlich dazu bei, die deutsche Küche international in das verdiente, bessere Licht zu rücken und die Avantgarde als das zu präsentieren, was sie ist: stilprägend für die Dinge, die wir in den kommenden Jahren in einer abgewandelten Form in unzähligen Bistros genießen werden. Besonders muss man mit Thomas Ruhl, Ralf Bos und Jürgen Dollase die Initiatoren dieser Veranstaltung loben. Denn mit ihrer Akribie, ihrer Fach- und Menschenkenntnis ist ihnen etwas von besonderem Wert gelungen.
Jürgen Dollase hat dabei das erstaunliche Talent entwickelt, den Köchen bei Ihrer Bühnenpräsentation analytisch kluge Fragen zu stellen. So wird dem Publikum an entscheidenden Stellen die gesamte Idee des Aufbaus vor Augen geführt. Er nimmt sich dabei auf der Bühne sehr zurück und wirkt wie ein Mäeutiker der Kulinaristik. Genau genommen ist dies kein Wunder, schließlich ist Dollase seit vielen Jahren unermüdlich darauf bedacht, die Geschmackserlebnisse der großen Küchen Europas auf den sprachlichen Punkt zu bringen. Gekonnt gelingt es ihm mit seiner einfühlsamen Art, dem Publikum den Schlüssel zu einem Gericht und der dahinter stehenden Absicht zu vermitteln. Dadurch und dank der abgestimmten Präsentation dieser sehr unterschiedlichen Ansätze aus der Spitzengastronomie erlebte das Publikum auch in diesem Jahr wesentlich mehr als eine bloße Aneinanderreihung einzelner Eindrücke. Die Besucher spürten, was eine Küche alles auszudrücken vermag. Sie geht eben nicht nur durch den Magen sondern auch durch den Kopf.
Für die kommenden Jahre sollte die Chef-Sache aufbauend auf dem bewährten Prinzip weitergehende Ansprüche formulieren: Sinnvoll wäre sicherlich eine einführende Talkrunde mit den Wegbereitern der „Neuen Deutschen Küche“. Hier könnten Eckart Witzigmann, Harald Wohlfahrt gemeinsam mit Dieter Müller an einem Tisch sitzen. In diese Runde sind passende Köpfe aus der Wissenschaft und der Publizistik hinzuziehen. Wenn das Veranstaltungsformat noch mehr erreichen möchte, braucht es Raum für Diskussionen und neben den Protagonisten, die die Technik und das perfekte Können liefern, auch Profis, die Ideen und Worte beisteuern, um eine Idee weg vom Herd hinaus in die Welt zu tragen. Schließlich stellt man sich gerade mit Bezug auf die rasante Veränderung in der Spitzengastronomie die Frage, was denn das Spezifische der „Neuen Deutschen Küche“ sei. Können, Perfektion und Fleiß sind rein technische Begriffe, sie dienen lediglich als Voraussetzung für eine größere, sozusagen Bottura´sche Idee. Was also macht den Reiz, was die Besonderheit der „Neuen Deutschen Küche“ aus? Wofür stehen – bei aller persönlichen Unterscheidung und Nuancierung – ihre Protagonisten? Was, um nochmals Massimo Bottura aufzugreifen, wollen diese Köche gemeinsam erreichen?
Neben der Ästhetik bleibt folglich die Frage nach der Ethik, nach der Idee. Kochkultur ist immer an einen Mehrwert gekoppelt. Sven Elverfeld hat diesen Aspekt bei seiner Präsentation wie nebensächlich fallen gelassen, als er meinte: „Kochen hat immer mit Humor zu tun, denn ich muss lachen können, damit ich an meinen Produkten Spaß habe.“ Ja, Kochen hat mit Humor und mit einem ideellen Mehrwert zu tun. In jeder Spitzengastronomie steckt eine außergewöhnliche, eigenständige Aussage. Wer auch in Deutschland einen Mehrwert aus der neuen Köchegeneration ziehen will, wer möchte, dass die Spitzengastronomie nach skandinavischem Vorbild gar als Impulsgeber des Tourismus agiert oder – französisch gedacht – stärker zur kulturellen Identität beiträgt, der muss die richtige Sprache finden, um diese Idee zu bergen. Nichts weniger kann man von Balzac lernen und möchte man sich von der Chef-Sache 2012 wünschen. Zuzutrauen ist es ihr.
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