Besterntes Bistro im Agnesviertel
Es war ein von Schneewolken verhangener grauer Februartag im Jahr 2004, als sich die Tür dieses Restaurants für mich das erste Mal öffnete. Vorausgegangen war ein quälend langer universitärer Prüfungsmarathon: Drei Kandidatinnen in der Stunde. Prüfungszeit netto 15 Minuten, drei Themen pro Kandidat, fünf Minuten für jedes Thema. Ende. Beratung, Verkündung. Verabschiedung. Der Nächste. Mir fiel dabei die undankbare Aufgabe zu diese Prüfungen inhaltlich zu protokollieren. Dazu sah die Prüfungsordnung ein von Hand geschriebenes Protokoll vor. Eine Vorgabe, welche die erlernten Rituale universitär zu erbringender Leistungen im Bereich der Prüfungen auf den Kopf stellte: Denn an der Uni, so wurde einem vom ersten Tag an eingebläut, durfte nichts von Hand Geschriebenes an irgendeiner Stelle eingereicht werden. Die Hand, an diese geforderten Aufgaben nicht gewohnt, schmerzte schon nach der ersten Stunde, also dem dritten Kandidaten. Doch das war nur eine leidige Begleiterscheinung. Aufregung und Angstschweiß mischten sich mit dem Geruch von Streusalz und Schneeresten, welche in den Raum getragen wurden. Die Taktung war so eng, dass ein Belüften des Raumes nur minutenweise möglich war. Prüfungen als Fließbandarbeit. Freundliche Gesichter, gegen die Unsicherheit der Prüflinge. Für einige ging es um die Zulassung zum Hauptstudium, für andere schon um den wichtigen mündlichen Teilbereich zur Erlangung eine akademischen Grades. Nach der 12. Prüfung und also dem 36. Thema des Tages, streckte sich der Professor neben mir und ich freute mich auf die Ruhe einer großzügig anberaumten Mittagspause – mein Büro war nicht weit. Wohlweislich hatte ich Proviant und Espresso deponiert, ein Spaziergang an der frischen Luft würde sicherlich für Erfrischung nach diesem Prüfungsmarathon sorgen. „Jetzt aber los“, der schon in die Jahre gekommene Mann sah mich unter seinen bedrohlich zugewachsenen Augenbrauen aus gerade erwachten blauen Augen an. „Ich lade Sie zum Mittagessen ein.“ Meine Laune fiel auf den Nullpunkt, keine Ruhephase zwischen den Prüfungszeiten. Dafür jetzt aber die Aussicht ein lausiges Mensamahl und ein sicherlich langweiliges Gespräch über die gemeinsam erlebten Prüfungen. Da die Protokollierung der Prüfungen eine freiwillige und also unentgeltliche Leistung bei einem anderen Lehrstuhl darstellte, schien mir die Entlohnung in Form eines Mensaessen beschämend auszufallen. Missmutig stapfte ich hinter ihm die steilen Treppen des Instituts hinunter auf die Straße. Dort angekommen, schlug er aber nicht den Weg in die Mensa ein, sondern öffnete mir die Tür einer mit laufendem Motor wartenden Limousine. Er bemerkte meine Verblüffung: „Der Fahrdienst der Uni,“ sagte er. „ Privilegien haben etwas für sich.“ Ich wusste gar nichts von einem solchen Fahrdienst. „Kostenlos“ setzt er mit einem beruhigenden Lächeln zu und schon gab er dem Fahrer Anweisungen, um sogleich in einem Notizbuch nach etwas zu suchen. „Wir gehen in ein Restaurant, das sie sicherlich noch nicht kennen werden. Dort gibt es mittags ein französisches Handwerkeressen. Traditionell gibt es dazu ein Glas Wein. Das nehmen wir. Denn gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Aber es gibt eine Bedingung: Auf jeden Fall bestellen wir ein zweites Glas Wein, sonst überstehe ich die Prüfungen am Nachmittag nicht.“ Ich hatte keine Ahnung, was mir noch bevorstand, abgesehen von einem weiteren Prüfungsmarathon am Nachmittag. Aber immerhin versprach die Ankündigung eine ungeahnte Abwechslung an diesem dunklen und kalten Wintertag. Also freute ich mich auf das in Aussicht gestellte Mittagessen. Er lächelte, denn er hatte meine Einwilligung registriert. „Wenn man schon so früh aufstehen muss, um die ersten Prüfungen vor Beginn des Tageslichts abzunehmen, dann sollten wir uns zumindest Zeit für das Mittagessen nehmen.“ Und nach einer wohlgesetzten Pause atmete er aus: „Retten wir also das Mittagessen. Sonst stirbt der Genuss.“
Butter zum verlieben
Jetzt aber wurden uns vom zuvorkommenden Service die Mäntel und Regenschirme abgenommen und im Handumdrehen saßen wir an den Bistrotischen, die, nachdem sie wieder an ihren Platz gerückt waren, noch mit Hilfsmitteln vor dem Wackeln geschützt werden mussten. Ein freundlicher Herr mit blauem Hemd und feiner Fliege begrüßte meinen Gastgeber wie einen alten Freund – später erst würde ich erfahren, dass sie tatsächlich eine über ein Jahrzehnt gewachsene freundschaftliche Beziehung aufgebaut hatten – bevor ein Korb mit Brot und einer Portion Butter samt Buttermesser zwei Gläser Champagner ungefragt an unserem Tisch platziert wurden. „Ich liebe diese Butter“. Schnell verschwanden zwei großzügig mit Butter eher belegte als bestrichene Scheiben Baguette in meinem sichtlich entspannter wirkenden Tischnachbarn. Wollte ich diese Butter also probieren, gab es keinen Grund mehr höflich zu zögern, im Gegenteil. Mein Gegenüber hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass die Höflichkeit für ihn darin lag, das Gebotene im gebührenden Maße zu goutieren. Was für eine Butter. Und ja, man sollte wirklich gerade noch die Zahnbadrücke in ihr erkennen können, um ihren Geschmack richtig zu würdigen. Merkwürdig, ich verstand meine Eltern – beide in den Kriegsjahren geboren und in der Nachkriegszeit aufgewachsen – nie, wenn sie sich die Butter dick auf ihre Brotscheiben schmierten. Für mich ein fettig-unerträgliches Gefühl am Gaumen. Hier aber gingen der Duft des frischen Brotes mit den in der Butter eingefangenen Salzkristalle und Aromen ein Spiel ein, das den Gaumen schon vor dem ersten Schluck Champagner aus seiner Müdigkeit erweckte. Im Handumdrehen leerten sich Brotkorb und Gläser, als die Vorspeisen auf die Tische kamen. Ein winterlicher Salat mit Bouchot-Muscheln und Vinaigrette. Endivien- und Radicchio ergänzen sich in bitteren Akzenten, um die von feiner Weinsäure umfassten sahnigen Muscheln gemeinsam mit dem dezent eingesetzten Estragon und Koriander in ein unaufdringliches Spiel von Kontrasten zu ziehen. Wann hatte ich diese Kräuter schon einmal als unaufdringlich erlebt? Hier waren sie nicht nur dies, sondern von einer durchdringenden Klarheit im Geschmacksbild, ich begann mich für beide bisher eher geschmähte Kräuter zu interessieren – mittlerweile ist eine Freundschaft zu ihnen entstanden und in zahlreichen selbst zubereiteten Gerichten möchte ich, dank dieser Erweckung nicht mehr auf sie verzichten. Der Weißwein in mineralischer Frische verlängerte das Spiel der Aromen und versetzte uns in eine sonnendurchflutete Bucht am Meer.
Plätze an der Sonne
Erst jetzt bemerkte ich, die Besonderheit unseres Platzes. Hier, am Fenster hat mein Gegenüber, der an der Wand sitz, den perfekten Blick über den gesamten Raum des Restaurants – nicht zufällig hat er diese Blickdiagonale zur Theke und zur Küchentür gewählt – auf der Rückfahrt wird er mir anvertrauen, dass dies sein Stammplatz ist. Erst Jahre später erfahre ich, dass bei der Reservierung auf bestimmte Sitzplatzwünsche keine Rücksicht genommen werden kann, diese sind speziellen Stammgästen vorbehalten. Auch wenn ich mit dem Rücken zum Geschehen sitze, nimmt mich der in Art Deco Stil gestaltete Raum gefangen. Die anfängliche Stille ist mittlerweile einem lebendigen Plauderton gewichen. Anscheinend sind hier alle Plätze an der Sonne. Das Restaurant ist ausgebucht und der Service bringt eine Köstlichkeit nach der anderen an die Tische., denn in der Regel, so stelle ich jetzt fest, ordert man nicht nur das „Handwerkermenü“, sondern gleich das für die Woche ausgeschriebene, das mit zahlreichen kleinen Überraschungen am Tisch aufwartet und Glück in die Gesichter der Gäste zaubert. Unsere Gläser werden ausgetauscht, wir bekommen einen leicht gekühlten, frisch anmutenden Rotwein eingeschenkt. Die Tranchen der Lammkeule, die wir nun serviert bekommen, werden von Couscous und Bohnen begleitet. Die unterschiedlichen Garpunkte, von leicht blutig über rosa bis zur kleinen durchgegarten Fläche am Rand weisen darauf hin, dass das Fleisch am Knochen gegart wurde. Die Gewürze - vor ihrer Verwendung frisch angeröstet - zum Couscous sind so intensiv an der Nase, dass wir die sonnige Strandbucht gedanklich in den Maghreb verlegen – der Wein hilft uns bei dieser federleichten Reise. Mein Gastgeber hält sich nur kurz beim Alltag der Prüfungen auf, doch schon mit dem ersten Bissen vom Brot wechselt er das Thema, so als würden ihn kulinarische Eindrücke direkt vom Alltag wegschweben lassen. Er erzählt von einigen Theateraufführungen, die für ihn besonders waren, schweift dann passend zur Vorspeise zum Thema der besonderen Fischgerichte am Atlantik, um beim Anblick des Rotweins unweigerlich auf ein Treffen mit Hans Jürgen Krahl zu sprechen kommen. Die unvermittelte Hinwendung des Themas auf einen der prominentesten Vertreter der Studentenbewegung verblüffte mich immerhin derart, dass ich sie noch heute im Gedächtnis habe. Weshalb dieses Thema, das mit unserem universitären Alltag so gar nichts gemein hatte? Ich glaube gerade deshalb. Der Ältere will dem Jüngeren ein Gesprächsnagebot machen, austesten, wo die Möglichkeiten zu gemeinsamen Redethemen liegen. Ich kenne diesen so prominenten wie eigentümlichen Vertreter der Studentenbewegung nur aus Texten und Anekdoten. Immerhin gebe ich den Gemeinplatz zum Besten, dass er wohl der einzige Student war, den Adorno als Gesprächspartner, später auch als seinen Mitarbeiter akzeptierte. Sehr wahrscheinlich lag darin auch seine Sonderstellung innerhalb des SDS. Krahl galt auf Grund seiner raschen Auffassungsgabe als sehr klug und trinkfest. Sollte dies der Grund für das Thema sein? Die Gläser auf jeden Fall wurden von scheinbar unsichtbarer Hand und sehr zur Zufriedenheit meines Gegenübers, erneut gefüllt. Natürlich kommen wir noch auf das Glasauge zu sprechen und darauf, dass Krahl es gerne während einer Vorlesung aus seiner Augenhöhle nahm, um es zu reinigen. Über die Details der Geschichten habe ich vergessen, welchen Kuchen wir als Dessert gereicht bekamen. In Erinnerung aber bleibt mir der Lollis, den es zum Espresso gibt. Und meine Irritation, als ich hier, wo ich mich gerade noch am Strand des Mittelmeers wähnte, meinen Wintermantel und einen Schirm gereicht bekomme: Draußen ist wirklich Köln. Die Krefelder Straße im Schnee und diese Pforte, die mir nun schon zu erkennen gibt, dass sie sich wieder für mich öffnen wird. Ich muss nur wieder kommen.
An die Details der Prüfungen am Nachmittag erinnere ich mich nach all den Jahren nicht mehr. Eines aber weiß ich: Keiner der Kandidaten viel bei der Prüfung durch. Auch in dunkle universitäre Büros übertragen kann gelebter Genuss nachhaltig für Wohlwollen sorgen. Eines aber weiß ich: Dieser erste Besuch im Le Moissonier hat mir neue Horizonte erschlossen. Wie schön, das es nun am 01. September 2023 wieder seine Pforten öffnet.
Das Bistro hat also zurück zu seinen Wurzeln gefunden. Freuen wir uns auf Eric Menchon und seine Küchenbrigade. Auf Vincent Moissonnier und sein Serviceteam. Auf grandiose Gerichte. Pat de jour in der weinroten Cocotte. Retten wir also das Mittagessen, sonst stirbt der Genuss.