Auster
Den einen ist sie das meeresfrische Symbol außergewöhnlichen Genusses, den anderen gehen Begeisterung und sinnliche Freude ob der Auster vollkommen ab. Mitunter haftet der Debatte etwas Dogmatisches an, um so mehr gilt: erst wer schmeckt, weiß auch bescheid. Eine Anregung für die gastrosophische Probe aufs Exempel.
Austern scheiden die Menschheit in zwei Gruppen. Man merkt es sofort, sobald man auf das Thema zu sprechen kommt: Die einen sind bei dem Gedanken an die glibbrige Auster angewidert, die anderen voll Vorfreude auf den Genuss, den allein schon der Klang des Namens verspricht. Es gibt Menschen, die würden eine geöffnete Auster nicht anrühren, andere stehen mitten in der Nacht aus dem warmen Bett auf, um noch ein paar Austern zu knacken.
Belon Austern oder Austern aus der Marenne sind in der Austernwelt Begriffe, wie die Fines de Claire, die Spéciales de Clair. Unübertroffen für viele Feinschmecker ist jedoch nicht die Sylter, sondern die Spéciales Gillardeau-Auster. So auch für unseren gastrosophischen Kopf Ralf Bos, der dazu rät, am besten nur diese perfekte Auster mit ihrem angenehmen Geruch zu verzehren.
Schon Paul Bocuse wusste davon zu berichten, dass man Austern am besten pur genießt, sie also nicht gratiniert oder auf andere Art zubereitet. Ganz ursprünglich genießt man die Auster je nach Geschmack und Tagesform mit etwas Zitronensaft, frisch angesetztem Schalotten-Essig, mit Pfeffer oder – auch wenn das bei Puristen zum Naserümpfen führt – mit Tabascosauce zur Bekämpfung des Katers. Natürlich lassen sich Austern auch danach unterscheiden, in welchem Anbaugebiet sie aufwachsen, beziehungsweise wo sie gezüchtet werden. In der durch starken Tidenhub charakterisierten Bucht des Mont-St-Michel in der westlichen Normandie wachsen die unter Kennern sehr begehrten Cancalle Austern.
Austern en gros
Mittlerweile genießt man Austern in der Regel im halben Dutzend. Das Dutzend aber ist bei Verzehr von Austern, dem metrischen System zum Trotz, immer noch das Maß aller Austern-Dinge, und dieses verweist auf eine Zeit, als die Austern nicht gerade in geringer Menge verspeist wurden. Noch Honoré de Balzac weiß aus jener Zeit, als sich die französischen Restaurants in ihrer heute präsenten Art entwickelten, davon zu berichten, dass man als Genießer Austern en gros orderte, also zu zwölf Dutzend. Dazu wurden gerne passende Weine in rauer Menge getrunken, um das Gefühl der Sättigung schon in seiner Entstehung zu bekämpfen. Denn die Austern stellten damals erst den Beginn eines üppigen Mahles dar. Gerne darf man sich auch heute ungeniert dem Dutzend Austern genießend zuwenden. Wer es gleich mit zwölf Dutzend aufnehmen möchte, dem sei gesagt, dass man sich zumindest als ungeübter Esser auf keinen Fall übernehmen, sondern sein eigenes Austernmaß selbst langsam schlürfend er(m)essen sollte.
Für ihre Liebhaber stellt die Auster den Inbegriff der kulinarischen Offenbarung dar. Ist sie frisch, verströmt also nach dem Öffnen einen leichten Meeresgeruch, enthält sie viel Flüssigkeit, ist gut geklärt und vollfleischig, dann kann man schon mal mitten in der Nacht aus dem Bett aufstehen, um noch ein paar Austern zu knacken. Da wird noch nicht einmal der Geruch von Schalotten-Essig der Sinnlichkeit einen Abbruch tun.