Aura & Anima
Das Konzept der „Grenzenlosen Heimat“ trägt erste sichtbare Früchte. Mit Joschi Oswald ist ein Food Scout eingesetzt und damit ein Koch in einem neuen Betätigungsfeld außerhalb der Restaurantküche – allein diese Entscheidung wird Schule machen: Arbeitsplätze für Köche neu und flexibel denken, um sie für die Zukunft fit zu machen. Das Food Lab bekommt Konturen. Die Weinkarte ist noch international, auch die alkoholfreie Getränkebegleitung steckt noch in den Anfängen, aber Nachhaltigkeit benötigt Zeit, um nachhaltig auf allen Ebenden wirken zu können. Und man spürt den Pioniergeist, der hier alle beseelt und als Team zusammenbringt. Hier ist etwas angestoßen worden, dessen Veränderungen nicht in den strengen Grenzen der Küche bleiben, sondern das gesamte Konzept des Restaurants regional revolutionieren. Nun liegt das Ergebnis dieses Weges als Buch vor. Ebenso atemberaubend wie das gesamte Konzept: Pionierarbeit, die Zukunft schreiben wird.
Aura & Anima – Gastronomische Nachhaltigkeit für eine ganze Region in Buchform
„Alles beginnt auf dem Feld, beim Sparring mit den Landwirten“ heißt es so anregend, wie selbstverständlich im Resümee dieses Buches. Und es liegt am durchdachten über nunmehr 10 Jahre gewachsenen Konzept, das dieses Buch auch genau damit beginnt. Denn, so heißt es zu späterer Stelle: Mittlerweile kommen 90% der in unserer Küche verwendeten Lebensmittel tatsächlich aus der Region und von ausgesuchten Erzeugern, die sich nachhaltiger Landwirtschaft verschrieben haben. Erst durch das Zusammenspiel, die Überzeugung und die Gespräche mit den regionalen Erzeugern konnte man die Idee der hier praktizierten „Grenzenlosen Heimat“ umsetzen und beständig weiter entwickeln. Eine lange gewachsene wechselseitige Wertschätzung ist so entstanden und daher räumt dieses Buch diesen Menschen und ihren Produkten großzügig Raum ein. Denn Nachhaltigkeit beruht auf Wechselseitigkeit, auf Überzeugungen, für die man Partner – vom Erzeuger bis zum Gast begeistern muss. Für die man ein offenes Ohr ebenso braucht, wie den langen Atem, der nötig ist, um jenseits von kurzfristigen Zielen auf lange Sicht mit Genuss auf vielen Ebenen überzeugen zu können. Un d natürlich bedarf es hier auch einer persönlichen Betrachtung um den Charakter dieser so unterschiedlichen menschen einzufangen, was Jesper Hilbig in seinen Bilder mustergültig zum Ausdruck bringt.
Im Buch werden die Personen hinter den Lebensmitteln, ihre Arbeitsmethoden und Philosophie beschrieben. Und es ist gut, dass man hier den Produzenten den Raum gibt. Denn so erfährt auch der interessierte Laie, wie viel Sorgfalt in Lebensmitteln steckt, wenn sie nachhaltig produziert werden sollen. Und hier bleibt das Buch nicht bei Landwirten, Kräuter- und Obstbauern stehen, sondern schärft den Blick für nachhaltiges Handwerk: Metzger, die nicht nur auf die Qualität der von ihnen verarbeiteten Tiere, sondern auch auf die Verbesserung ihrer Arbeit Wert legen, sind hier ebenso vertreten, wie Stör- oder Texas-Longhorn Züchter. Auf diese Art kann Heimat kulinarisch wirklich grenzenlos werden. Dieser Gedanke, die Produzenten vorzustellen und den Lesern die Möglichkeit zu geben, selbst deren Shops zu besuchen, sollte für alle Koch-Bücher die Nachhaltigkeit propagieren zu einem so festen Bestandteil werden, wie ausgezeichnete Rezepte, spannende Reportagen und grandiose Fotografie.
Anima – Das Food Lab
„Grenzenlose Heimat“: Der Fokus auf das, was vor der eigenen Restauranttür wächst und angebaut wird öffnet erst den Blick für die heimischen Exoten – Wildkräuter, Rinde, Früchte, Beeren. Aber auch für die Menschen, die sich der nachhaltigen Vieh- und Landwirtschaft verschrieben haben.
Will man sich auf die Produkte der Region begrenzen, diese aber zugleich für ein Spitzenrestaurant nutzbar machen, ist es unabdingbar mit regionalen Lebensmittelproduzenten in den Dialog zu treten. Wie ist deren Philosophie? Wie kann man gemeinsam das Gute besser gestalten? Wie Sicherheiten schaffen? Denn die Beschränkung auf die Region, schafft nicht nur Beschränkungen im Hinblick auf die möglichen Produzenten, sondern auch im Hinblick auf die zeitliche Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Ein Umdenken in den Arbeitsabläufen und in der zeitlichen Planung muss einsetzen. Denn entscheidend ist jetzt nicht mehr ein Anruf bei einem Großhändler, der aus einem globalen Angebot stets flugfrische Ware anliefern kann, entscheidend ist, die regionalen Ressourcen in geschmacklich überzeugender Form für das Restaurant nutzbar werden zu lassen. Welche Komponenten also kann man für ein Gericht, welche für ein Menü planen? Wie lange kann man dieses auf der Karte halten? Wie kann man Lebensmittel bearbeiten, um länger auf sie zurück greifen zu können? Mit Joshi Oswald hat man hier einen verdienten Koch zum Food Scout gemacht, der mittlerweile auch ein Experte im Hinblick auf die Veredelung von Lebensmitteln ist. Trocknung, Reifung, Fermentation – Kühlhaus, Dry Ager, Rotationsverdampfer: Im Food-Lab werden traditionelle Konservierungsmethoden mit modernster Technik vermählt. Soja-Sauce aus regionalen Zutaten reift hier – anders als im japanischen Tontopf – im aromatischen Barriquefass seiner aromatischen Vollendung entgegen. Und dies ganz im Einklang mit der traditionellen herstellungsweise der gemäß eine Sojasauce zur perfekten Reife jede Jahreszeit einmal erlebt haben muss. Hier wird Soja Sauce unter dem Namen Papa Mame zu einer regionalen Spezialität – Heimat grenzenlos gedacht. Doch das Konzept der grenzenlosen Heimat – erst einmal wirklich ernst gedacht – zwingt dazu, neue Wege zu gehen und überraschend aromatische Lösungen zu finden: Ein im Salzmantel gereiftes Gemüse wie Kohlrabi oder Steckrübe verliert über 90% seines Gewichts, verblüfft dann aber durch eine aromatische Dichte und Finesse. Gehobelt wie Parmesan wird sie zu einem überraschend vielseitigem Gewürz. Kräuter und Blüten können mittels ihrer Bearbeitung im Rotationsverdampfer, aromatisch konserviert, Beeren und Gemüse mittels Einwecken, Trocknung oder Fermentation haltbar gemacht werden. Die auf diese Weise erzielten vielschichtigen Aromen der Lebensmittel bilden dann den Ausgangspunkt, um wie die frischen Zutaten in der Küche des Restaurants als gleichwertige Akteure in den saisonalen Menüs ihren Auftritt erleben zu dürfen. Entscheidend ist, dass man bei der Planung zuvor genau übersieht, mit welchen Mengen man für das Menü rechnen kann, denn Nachschub wird es erst wieder nach der nächsten Ernte und dem darauf folgenden Reifeprozess geben. Nicht mehr die tägliche Verfügbarkeit bestimmt hier das Handeln, sondern die Umsicht mit den saisonalen Zutaten so umzugehen, das man sie für das Menü der jeweiligen Saison genießen kann. Mithin wird hier eine gastronomische Zukunft gelebt, die man schon jetzt als geschmackliche Komponente genießen kann. Die Rezepte geben einen umfangreichen Überblick über die Möglichkeiten, die hier entstanden sind und somit auch über das hier zugleich geschaffene breite Entwicklungspotential. Und – gar nicht einfach nebenbei, sondern sehr zentral: Das Wissen darum ein nachhaltiges Konzept zu verfolgen, auszubauen und zu verstetigen fördert die Motivation der Mitarbeiter, ebenso wie den Teamgeist und damit – ganz nebenbei – die Attraktivität des Arbeitsplatzes. Denn mit Wirsberg verhält es sich wie mit Sylt: Das liegt nicht auf dem Weg, da muss man schon hinwollen. Als Gast, aber auch als Azubi oder Mitarbeiter. Nachwuchsprobleme gibt es hier nicht. Eine weitere Form des nachhaltigen Konzepts, das hier konsequent und nicht als Marketingversprechen umgesetzt wird.
Aura – Das Restaurant
Die Grundlage aus dem Anima wird dann im Aura zum Ausgangspunkt der Kochprozesse – des zweite „Kreativprozesses“, wie es im Buch heißt und womit die Gleichstellung der Bereiche von Anima und Aura schlicht zum Ausdruck kommen – auf diese Weise kann man große Neuerung so leise wie eindrücklich zugleich vermitteln. Dies sollte nicht beiläufig erwähnt werden, denn die Bereiche von Anima und Aura werden als zwei getrennten verstanden, um die organischen Vorgänge – diejenigen des Konservierens und diejenigen des Kochens – als grundlegend gleichwertig zu begreifen. Anders würde man sicherlich – wie in anderen Küchen auch üblich – die zu beziehenden Produkte lediglich als zu beschaffenden Zutaten zu verstehen. Nicht aber hier, denn die Arbeit beider Bereiche greifen Hand in Hand. Man schaut, welche Aromen sich mit der Zeit in den konservierten Produkten entwickelt haben und entscheidet dann nach entsprechender Expertise, wann und in welchem Zusammenhang man diese Produkte zum Einsatz bringen möchte. Man hat hier also weniger einen Vorratsschrank als eine gärend-dynamische Reifekammer. So entstehen im direkten Austausch mit dem Anima im Aura Gerichte mit Geschichte, eine starke Verwurzelung zu den regionalen Produkten und ihren Produzenten. Ganz automatisch werden so im Gespräch mit den Gästen die Lebensmittel und die Menschen, die sie regional produzieren und den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die Arbeit in der Küche ist unübersehbar, wird aber vom Service und den Köchen am Tisch nicht in den Vordergrund gestellt, sie ist ja sichtbar auf den Tellern. Hier versteht man sich – und das ist in der Tat Understatement – als verschwindender Vermittler, auf dem Niveau zweier Michelin Sterne. Und auch damit setzt man neue Maßstäbe: Hier werden Gerichte mit Geschichte statt Signatare Dishes präsentiert. Ein himmelweiter Unterschied, der unterstreicht, wie weit das Konzept der grenzenlosen Heimat hier greift. Die Schätze aus dem Anima bilden dabei die Grundlage für die Teller und versehen die Menüs mit ihrer einzigartigen Aura.
Getränkebegleitung
Doch damit und den entsprechenden jahreszeitlichen Rezepten endet das Buch nicht etwa. Im Gegenteil: Es nimmt gewissermaßen Anlauf, um nun die jüngsten Früchte aus dem Zusammenspiel von Anima und Aura zu präsentieren. Denn die Weinkarte, mittlerweile auch - abgesehen vom Champagner - bewusst regional besetzt, bekommt hier eine gleichwertige Begleitung in Form von eigens aus dem Fundus des Anima inspirierten und auf die Gänge der Menüs fein abgestimmten Getränke. Auch hier ist die Arbeit einem Koch anvertraut.
Wie wichtig diese Aufgabe hier genommen wird, zeigt der Umstand, das mit Aaron Traxler ein Koch und kreativer Kopf eigens dafür verantwortlich zeichnet. Die Getränkebegleitung ist hier also die Verbindung der beiden Kreativprozesse „Aura&Anima“. Um ein „Match“ zwischen Gericht und Getränk zu erreichen, ist es entscheidend, die anderen Produktionsbereiche in ihrer Funktion und Arbeitsweise zu verstehen und auf ihre „Zutaten“ zugreifen zu können. Früchte, Kräuter, Blätter und Blüten werden zur Zubereitung der alkoholfreien Getränke ebenso sorgfältig behandelt, wie in der Restaurantküche. Und wer sich hier durch die Rezepte arbeitet wird schnell feststellen, welch kreatives Potential sich hier entfaltet.
Das die Dokumentation der Rezepte da nicht zur Nebensache, sondern zum Blickfang wird, liegt sowohl an den grandiosen Fotos von Pieter D´Hoop, der die Gerichte so abbildet, wie sie entstehen, oder im Restaurant serviert werden: Ruhig, konzentriert, unaufgeregt beinhalten sie jede Menge Ideen und Finesse, als auch an der durchdachten Designspur, die Oliver Hick-Schulz hier durch das gesamte Werk gelegt und es damit zu einem Buch geformt hat, das den Genuss auf jeder Seite fördert.
Grenzenlose Heimat – Ein Konzept mit Perspektive
Das Buch zeigt das Ergebnis einer nachhaltigen Entwicklung, die vor 10 Jahren unter dem Motto „Grenzenlose Heimat“ ihren Anfang genommen hat. Was engagierte gastronomische Betriebe zu leisten vermögen, um eine Region in neuem aromatischen Gewand auf den Tellern und in den Gläsern leuchten zu lassen, zeigt dieses Buch, das nichts weniger als eine umfassende Pionierleistung abbildet.
Tartuffel empfiehlt:
Alexander Herrmann, Tobias Bätz: Aura&Anima. Restaurant & Future Lab. 512 Seiten, 89,90€