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Ausschnitt aus dem Originalentwurf für das Cover des Kochbuchs von Mathilde Erhard | Foto: Christian Votteler [Public domain], via Wikimedia Commons

Arno Schmidt: Nobodaddy’s Kinder

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg – so simpel lässt sich Arno Schmidts Zutrauen in die Zivilisation zusammenfassen. Welchen Wert das Essen in solchen Zeiten hat und welche Sehnsüchte es transportiert, hat die Themenreihe „Schlachtbankett“ in der Romantrilogie „Nobodaddy’s Kinder“ von Arno Schmidt nachgelesen.

Über Naturschönheiten, Bücher sowie Braten mit Sauerkraut

 

Als Kronzeuge der Kulinaristik taugt er kaum. Doch nicht seiner feinschmeckerischen Expertise wegen zitieren wir Arno Schmidt herbei. Verschrien als zynischer Kulturpessimist und von der Teilen der wahren, echten, schönen Linken als antidemokratischer Biedermann geziehen, bleibt er doch origineller Chronist jener amnesiefreudigen Mischung aus Elend und Muff, die später als Stunde Null verklärt werden wird.

Arno Schmidt ist ein deutsches Kriegskind des 20. Jahrhunderts. Geboren 1914, eröffnet seine Erinnerung mit der Armut der Kindheit im kleinbürgerlichen Haushalt. Fünf Jahre ist er Soldat des Zweiten Weltkriegs, der für ihn mit britischer Kriegsgefangenschaft endet. Es folgen bittere Nachkriegsjahre mit zugewiesenem Wohnraum und verfügter Umsiedlung sowie mit andauernden finanziellen und existentiellen Nöten.

Es ist die Zeit zwischen dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und den Nachkriegsjahren, der sich Schmidt in seiner Romantrilogie „Nobodaddy’s Kinder“ widmet. Und als seien zwei Weltkriege für eine Generation nicht genug, verlegt Schmidt den dritten Teil in eine fiktive, nahe Zukunft nach einem weiteren, atomar geführten Weltkrieg, der nahezu die gesamte Menschheit ausgerottet hat. Doch alles seiner historischen Reihe nach.

Kulturpessimismus mit Braten

Die Romantrilogie eröffnet mit „Aus dem Leben eines Fauns“, in dem der Ich-Erzähler, der Beamte Heinrich Düring, bildlich zum Mischwesen wird. Eine Verwandlung, die der Krieg auslöst, und Düring neben seiner bürgerlichen Existenz zum durch Wald und Heide schweifenden Romantiker mutieren lässt. Die Hütte eines Deserteurs aus napoleonischer Zeit, die der Protagonist bei Forschungsarbeiten zur Lokalhistorie entdeckt, wird so zum stundenweisen Exil für Düring und seine jugendliche Geliebte.

Aber selbstverständlich schauen wir dem Roman auf die Teller. Vor Ausbruch des Krieges manifestiert sich die Normalität in „Stullen“ für die Mittagspause, in den Bratkartoffeln samt Wurst und Harzer Käse zum Abendbrot. Beispielhaft stehen diese Speisen für das kleinbürgerliche Idyll in großdiktatorischer Zeit. Als der Kriegsausbruch sich andeutet, weiß Düring mit seinen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, was zu tun ist. Er beginnt prophylaktisch zu hamstern und „harte“ Währung anzulegen, er kauft Kakao, Tee und Kaffee, Tabakwaren, Rum und „Hochprozentigen“ ein.

Der Roman endet mit einem Bombenangriff auf die benachbarte Munitionsfabrik, in dessen Beschreibung Arno Schmidt stilistisch auf Expressionisten wie August Stramm zurückgreift, um die Zerstückelung der Welt sprachlich nachzuzeichnen. In dem Inferno aus explodierenden Bunkern und lebendig verbrennenden Menschen wird Dürings letzter Glaube an den Anstand dieser Zivilisation hinweggebombt. Vor diesem Hintergrund ist das Credo des Protagonisten zu verstehen: „Das Verläßlichste  sind Naturschönheiten. Dann Bücher; dazu Braten mit Sauerkraut. Alles andere wechselt und gaukelt.“

Die Sehnsucht nach bürgerlicher Küche

Der zweite Teil der Trilogie, „Brand’s Haide“, liefert gleich das Exempel auf das Schmidt’sche Axiom der Verlässlichkeit. Dem Ich-Erzähler, dieses Mal der Schriftsteller Arno Schmidt himself, wird nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft eine Unterkunft in einem kleinen Heidedorf zugewiesen, das in direkter Nachbarschaft zum Wohnort des „Fauns“ Heinrich Düring liegt. Dort schließt er sich mit zwei Frauen zusammen, um gemeinsam die Not der Mangelernährung und der miserablen Unterkunft zu überstehen.

Damit schlägt der Roman eine Brücke zurück zu den Krisenerfahrungen des Ersten Weltkriegs. Es gibt wieder Lebensmittelkarten, für die es nichts rechtes gibt, der Schwarzhandel regelt den Warenverkehr der wirklich wichtigen Dinge und die harte Währung heißt Tabak oder Alkohol. Im Wald werden Pilze, Beeren und Eicheln gesammelt, um den Nahrungsplan aufzubessern. Zivilisatorischer Fortschritt, so signalisiert dieses Déjà-vu nach 30 Jahren, sieht anders aus.

Die hungernde Entbehrung bringt eigene Begehrlichkeiten hervor. Ungerührt träumt der Protagonist mit hungrigem Magen beim Anblick eines Pferdes: „Unwillkürlich sah ich Apels verdrossenen Braunen an: e i n m a l satt essen!!: Rührkartoffeln, Knorrs Soßenwürfel, ne saure Gurke, und dazu gebraten: Pferdegehacktes satt (d. h. mindestens ein Pfund! – Ach was: Zwei!) Ich schluckte: na, das erlebe ich nicht mehr!“

Der „Braten mit Sauerkraut“ ist bereits zu einfachen Rührkartoffeln und Pferdefleisch mutiert, doch auch dieses Gericht trägt eine kriegerische Note in sich. Den Kartoffelbrei – also die Rührkartoffel – mal außen vor gelassen, verweist das Pferdegehacktes auf eine begehrte Spezialität der Kriegsküche. Denn wenn die Pferde an der Front starben, genoss man allemal das frische Fleisch als Abwechslung zur Kost aus Graupen, Steckrüben und allerlei Ersatzlebensmitteln.

Doch die eigentliche Sehnsucht weist viel weiter zurück. Sie beruft sich auf die bürgerliche Küche vor dem ersten großen Krieg und wird uns – wie soll es bei Schmidt anders sein – in Form eines Buches vorgestellt.

„ [...] das Buch auf dem Tisch: Mathilde Erhards Kochbuch. (Grete hatte sichs von der Schradern geholt: warum wohl!) Lange und geil in den Rezepten gelesen: man nehme einen 4-pfündigen Rehrücken; zum Baumkuchen 70 (sic!) Eier; Seife kocht man bequem aus den restlichen Fettabfällen unserer Küchen: wir hätten sie blank verschlungen; mit Abbildungen der gut bürgerlichen Küche um 1900; Pflege des Weinkellers; und ich hatte meine Flasche so einfach in die Kiste gestellt; so also sah ein gedeckter Tisch für 32 Personen aus, und ich las gierig die Gänge, bis mir schlecht wurde: »Iss Essen schon so weit?!« Kam sofort: Rührkartoffeln, und ohne Fett gebratene Äpfel: mir fielen unsere Vorräte ein, und dies würdes dann also für die nächsten 4 Wochen geben. (Doller Geschmack!)“

Das „Große Illustrierte Kochbuch für den einfachen bürgerlichen und den feineren Tisch“ von Mathilde Erhard bringt seit 1900 in vielfachen Auflagen die aufstrebende deutsche Mittelschicht auf den französischen Geschmack der bürgerlichen Küche. Es führt damit in die Zeit vor den Kulturpessimismus des Ich-Erzählers zurück und vielleicht ist dieser Sehnsucht auch eine biedere Note nicht abzusprechen. Aber es geht noch biederer.

Die Zivilisation schmeckt nicht mehr

„Schwarze Spiegel“, der dritte Teil der Trilogie, ist eine Robinsonade, die in einer menschenleeren Heidelandschaft spielt. Doch des apokalyptischen Szenarios zum Trotz – nahezu die gesamte Menschheit hat ein Atomkrieg ausgelöscht – wandelt sich der Schauplatz zum locus amoenus, zum kleinen Paradies des Ich-Erzählers. Und es ist das sesshaft Werden, das den mit Fahrrad und Anhänger durch Europa nomadisierenden Protagonisten eine neue „Zivilisation“ begründen lässt.

Was Robinson Crusoe die natürlichen Ressourcen seiner Insel sind, die er erst kultivieren muss, entpuppt sich in „Schwarze Spiegel“ als intaktes Militärdepot mit Lebensmitteln auf Jahre hinaus. Der namenlose Erzähler baut sich ein Holzhaus, sammelt rare Erstausgaben von Büchern und originale Gemälde für die Einrichtung zusammen und lebt das Leben eines Einsiedlers ... bis er auf eine Gefährtin trifft und mit ihr in ein Idyll eintaucht. Ein Idyll, das geschlechtliche Freuden und kleinbürgerliche Züge einschließt – wenn man in einer verwahrlosten Welt von einem Idyll reden will.

» Ein Oetker-Kochbuch will ich haben « (varium et mutabile semper femina) » Was meinst Du, was ich uns da kochen kann! «. » Na dann « zustimmte ich resigniert und schwerfällig, und sie lachte auf und kam sofort nahe: » Wir müssen schließlich auch mal essen «, sagte sie behaglich [...]

Wie wenig romantisch die Verbindung ausfällt, die in dieser Passage Essen und erotische Verführung eingehen, mag symptomatisch das Oetker-Kochbuch zum Ausdruck bringen. In direkter Analogie zu jener Szene im „Robinson Crusoe“, in der eine gut gekochte Portion Ziegenfleisch den Kannibalen von der Menschenfresserei abbringt, ist die folgende Schilderung zu sehen. Der namenlose Protagonist versucht seine „wilde“ Lisa zum Bleiben in seiner Zivilisation zu bekehren.

» Was essen wir heute? « Sie streckte träumerisch ein Bein in die frische blaue Luft; schnippte mit den Zehen (sic!); versunken: » Ja, wenn ich wünschen könnte - -  «. Seufzende Stille, mädchenträumerische: » Makkaroni mit Käse; dazu grüne Erbsen. Einen Mordsbraten; Tomatenmarksoße. – Und zwei Spiegeleier drauf! « schloß sie wild erwachend, und ihr Blick umfasste mich weit und voll transzendenter Bitterkeit: » NU «, sagte ich munter: » Makkaroni, Käse, .. mm, ... m: also außer den Eiern wär Alles da: kommen Sie nur.«  » Iss wahr? « fragte sie misstrauisch, schon im Schwung des Aufstehens (und ich musste gleich Feuer machen, und als Belegstück die betreffenden Büchsen öffnen).

Die Mahlzeit gelingt, die Bekehrung schlägt fehl. Lisa zieht weiter, bleibt Nomadin und der Protagonist im heidnischen Idyll wird weiterhin alleine essen – und trinken. Naturschönheiten, Bücher und Braten mit Sauerkraut bestehen halt auch in apokalyptischer Einsamkeit: So ernst ist Schmidts Kulturpessimismus dann doch zu nehmen.

Für Sie gelesen

Arno Schmidt: Nobodaddy’s Kinder: Aus dem Leben eines Fauns, Brand’s Haide, Schwarze Spiegel;
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